Habe ich mir bei der Lektüre auch gedacht. Man will es wohl schwarz auf weiß haben, dass man als "neutraler" Staat der Ukraine keinerlei Unterstützung leisten muss.
Eine kleine verfassungsrechtliche Anmerkung meinerseits: In den Verhandlungen zum EU-Beitritt wurde seitens Österreich wiederholt betont, dass man den "acquis communautaire" vollständig akzeptieren werde:
Ansprache von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil anläßlich der Eröffnung des Symposiums „Der Wirtschaftspartner Österreich im gemeinsamen Europa“ ( Deutscher Industrie- und Handelstag), Bonn, am 14. Dezember 1993, in: Österreichische außenpolitische Dokumentation Nr. 1/94. Februar 1994. Texte und Dokumente (Wien 1994), p. 51-55
In den Verhandlungen auf der Ebene der Botschafter angenommene Gemeinsame Erklärung zur Gemeinsamen Außen - und Sicherheitspolitik, 21. Dezember 1993, in: Österreichische außenpolitische Dokumentation Nr. 1/94. Februar 1994. Texte und Dokumente (Wien 1994), p. 56-57
https://diglib.uibk.ac.at/download/pdf/8533200.pdf
Die Bundesregierung hat dem Nationalrat im März 1994 einen Bericht über das Ergebnis der Beitrittsverhandlungen zur EU vorgelegt, in dem der "Kerngehalt der Neutralität" definiert wurde:
https://www.parlament.gv.at/gegenstand/ ... dStage=100Kapitel 24: Außen- und Sicherheitspolitik
Die Position der Bundesregierung zu dieser Thematik war von der Überzeugung geprägt, daß gerade außen- und sicherheitspolitische Argumente für den Beitritt Österreichs zur EU sprechen. In seiner Erklärung anläßlich der Eröffnung der Verhandlungen am 1. Februar 1993 betonte AuBenminister Dr. Mock, daß die Gemeinschaft nach der Aufhebung der Ost-West-Teilung des Kontinents zum politischen
Gravitationszentrum Europas und zum Bezugspunkt für alle europäischen Staaten geworden sei. Der Beitritt zur Union biete Österreich die Möglichkeit, jene Entscheidungen mitzugestalten und mitzubestimmen, die die Zukunft Europas und damit auch die Österreichs prägen werden.
Ausgehend von diesen Überlegungen bekannte sich die Bundesregierung zu den Zielsetzungen der im Vertrag über die Europäische Union verankerten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zur solidarischen und aktiven Mitwirkung Österreichs an dieser Politik. Diese Haltung wurde bereits im Juni 1992 den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in einem Aide Mémoire zur Kenntnis gebracht. Sie wurde in der Folge auch vom Nationalrat mit Entschließung vom 12. November 1992 ausdrücklich gebilligt.
Gleichzeitig ging die Bundesregierung davon aus, daß zwischen den Verpflichtungen eines EU-Mitgliedstaates und den Kernelementen der Neutralität kein Widerspruch besteht, und Österreich somit der Europäischen Union als neutraler Staat beitreten wird. Durch seinen Beitritt zur Europäischen Union wird Österreich weder zur militarischen Teilnahme an Kriegen verpflichtet, noch muß es Militärbündnissen beitreten oder der Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet zustimmen.
Ausgehend davon, daß der Beitritt zur Europäischen Union mit dem erwähnten Kerngehalt der Neutralität Österreichs vereinbar ist, sah die Bundesregierung davon ab, die Neutralität zum Thema der Beitrittsverhandlungen zu machen. Sie strebte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik keine Ausnahmen und Sonderregelungen an, war jedoch auch nicht bereit, irgendwelche über den Maastrichter Vertrag hinausgehende Verpflichtungen einzugehen. Diese Linie beruhte auf der festen Auffassung, daß die Interpretation der osterreichischen Neutralität sich nicht als Verhandlungsgegenstand eignet, sondern ausschließlich Österreich überlassen bleiben muß.
Die Schlussakte des Beitrittsvertrags enthält ein Bekenntnis der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden, dass sie
In der Regierungsvorlage zum Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat die Bundesregierung 1994 folgendes angemerkt:ab dem Zeitpunkt ihres Beitritts bereit und fähig sein werden, sich in vollem Umfang und aktiv an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, so wie sie im Vertrag über die Europäische Union definiert ist, zu beteiligen
https://www.parlament.gv.at/dokument/XV ... 263024.pdfIn diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, daß Österreich anläßlich der Behandlung des Kapitels 24 ("Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik"/GASP) im Rahmen der Verhandlungen über einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Union folgende Erklärung abgegeben hat: "Österreich geht davon aus, daß die aktive und solidarische Mitwirkung an der GASP mit seinen verfassungsrechtlichen Regelungen vereinbar sein wird. Entsprechende innerstaatliche rechtliche Anpassungen werden angesichts der geänderten politischen Rahmenbedingungen in Europa im Zusammenhang mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union vorzunehmen sein."
Der Standpunkt, den der Bundeskanzler offiziell in Brüssel vertritt, ist völlig überschießend und auch nicht durch Art. 42 (7) EVG ("Irische Klausel") zu rechtfertigen, die sich ausschließlich auf die militärische Beistandspflicht bezieht.
- Das neutrale Österreich driftet ins Abseits (Kommentar)
Der EU-Gipfel vom 29. Juni 2023 könnte sich als weit in die Zukunft weisender Wendepunkt in der Sicherheitspolitik der Union erweisen. Was die Regierungschefs zur Unterstützung der Ukraine festlegten, geht prinzipiell über das hinaus, was sie im russischen Eroberungskrieg bisher an Aktionen setzten. Plötzlich ist nicht mehr (nur) von konkreten Finanzhilfen oder von Waffenlieferungen die Rede.
In den Schlusserklärungen des Gipfels taucht das Wort "Zusagen" bzw. "Verpflichtungen" der EU und ihrer Partner für die künftige Sicherheit der Ukraine auf – im englischen Verhandlungswort "commitment". Das ist weniger als die Beistandspflicht der EU-Mitglieder gemäß den EU-Verträgen untereinander.
Es entspricht auch nicht dem Beistandspakt der Nato-Mitglieder, von denen immerhin 22 der EU angehören (bald auch Schweden). Aber: Diese europäische "Zusage", einer freien, souveränen Ukraine im Krieg mit (fast) allen Mitteln beizustehen, bringt eine neue Qualität der Militärpolitik in Europa.
Wer einem Drittstaat in der Nachbarschaft Sicherheit zusagt, der wird diese Verpflichtung nicht mehr so einfach los, auch wenn der Krieg noch härter wird. Die Regierungschefs mögen an Formulierungen noch herumfeilen, rhetorisch abschwächen, Bedenken der kleinen neutralen EU-Staaten berücksichtigen.
Allein die Erklärung, die Ukraine niemals an den Aggressor Russland aufzugeben, ändert alles. Kein Wunder, wenn Vertreter aus Österreich, Zypern, Malta und Irland deswegen beinahe hysterisch reagierten.
"Nicht mit uns!", erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer, der sich von allen Beteiligten am weitesten vorwagte. Es könne nicht sein, dass die Neutralen über Umwege in eine verpflichtende Militärunion gezwungen werden, der sie nie ihre Zustimmung gaben. Nehammer forderte das explizite Festschreiben, dass Österreich weiter selbst entscheiden könne, ob es mitmache oder nicht.
Die Nervosität, die aus Kanzlerworten spricht, ist verständlich. Drei Jahrzehnte nach dem EU-Beitritt des Landes wird langsam schlagend, was sich 1994 abzeichnete: Wenn die EU Ernst macht mit der Bildung einer Militärunion, geht Solidarität vor Neutralität. Zu dieser Formel hat Österreich sich damals bekannt. Der Krieg im Nachbarland führt nun zum sicherheitspolitischen Elchtest für ein Land, das gerne alle Vorteile der EU-Integration für sich in Anspruch nahm, sich aber zurückhielt, wenn es um militärische Solidarität ging.
Der Krieg in der Ukraine wird zur Existenzfrage für die EU. Schweden und Finnland, lange Vorbilder für die Österreicher, haben daraus ihre Konsequenzen gezogen. Österreich beharrt auf einer Sonderrolle. Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Niemand kann das Land in ein Militärbündnis zwingen. Der Kanzler will über die Neutralität nicht einmal diskutieren, weil der Großteil der Bevölkerung diese keinesfalls aufgeben will. Auch das ist völlig legitim.
Er sollte dann aber dazusagen, was das bedeutet. Ein EU-Land, das nicht bereit ist, mit den Partnern für Frieden und Freiheit zu kämpfen, gehört nicht zum inneren Kern einer Gemeinschaft.
https://www.derstandard.at/story/300000 ... ns-abseits2023 wird das Land von einem Kanzler und von Parteien geführt, die die Vergangenheit einfrieren wollen.