Die "Trittbrettfahrer": Österreichs "immerwährende" Neutralität
[Hintergrund: Wehende EU-Flagge] Andreas Mayr-Bohusch: "Die Europäische Union ist heute eine ganz andere als zur Zeit des österreichischen Beitritts.
[Hintergrund: Europakarte, EU-Mitgliedsstaaten gelb markiert; Ost- und südosteuropäische Staaten, Schweden, Finnland und Österreich hellblau markiert] Bis dahin zählte die EU gerade mal
zwölf Mitgliedsländer.
[Österreich, Schweden und Finnland werden gelb markiert] Mit uns gemeinsam sind Schweden und gleich... Finnland gleichzeitig beigetreten.
[Hellblau markierte ost- und südosteuropäische Staaten werden gelb markiert] In den Jahren darauf folgten noch dreizehn weitere Länder.
Die Europäische Union ist also deutlich
größer geworden. Ebenfalls gewachsen ist die Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen.
[Oberhalb der Abkürzung "EU" erscheint auf der Karte das NATO-Logo; NATO-Mitglieder, inkl. Türkei, werden auf der Karte hellblau markiert; die Nichtmitglieder violett] Fast die ganze EU ist auch in der NATO - nur vier Länder, darunter auch Österreich, gehören
nicht dazu. Denn seit dem
[Foto von der Unterzeichnung des Moskauer Memorandums am 15. April 1955 durch Julius Raab wird im Hintergrund mit Beschriftung "26. Oktober 1955" eingeblendet] 26. Oktober 1955 ist Österreich neutral.
Neutralität bedeutet
Bündnisfreiheit: Keine fremden Stützpunkte im Land oder auch nicht in andere Konflikte einmischen. Aber die Neutralität ist noch viel mehr: Nämlich eine Art
Lebensgefühl hierzulande. Manche sagen auch, ein sehr bequemes Lebensgefühl. Denn:
[Hintergrund: Europakarte mit hellblau markierten NATO-Mitgliedern wird eingeblendet] Schließlich sind wir großteils umgeben von NATO-Staaten und fühlen uns damit gut und billig geschützt.
Gefühle können freilich auch täuschen: Deshalb ist bemüht,
[Hintergrund: Foto einer österreichischen C-130K mit Soldaten davor wird eingeblendet] so weit es geht zumindest ein bisschen auch international militärisch mitzuspielen. Ausländische Truppentransporte dürften durch Österreich, es gibt gemeinsame Übungen - und wir sind sogar bei Militäreinsätzen im Ausland dabei.
[Hintergrund: Logos der UNO, der OSZE und der EU werden vor dem Foto eingeblendet] Solange es dafür ein Mandat der UNO, der OSZE oder der EU gibt. Damit hat der EU-Beitritt
[Hintergrund: Wehende Europaflagge] vor dreißig Jahren das
Wesen unserer Neutralität schon längst dramatisch verändert.
Eine Bestandsaufnahme von Stefan Gehrer."
[Mehrere Pandur EVO und ein SUV der Militärpolizei während einer Verzögerungsübung im November 2024 im Feistritztal] Feindangriff in der Buckligen Welt in Niederösterreich. Sieben Pandur und zwei Husar-Panzerfahrzeuge rücken vor. Die Angreifer, 80 Soldaten aus Straß
[Mannschaftsraum des Radpanzers; ein Soldat bedient den ETC für das Rundumsichtsystem] und Langenlebarn, gelangen in einen Hinterhalt der Verteidiger:
[Drei Soldaten laufen im Wald einen Abhang hinauf, bringen ein PAR 66 in Stellung; "Hauptschussrichtung - diese. Geforderte Wirkung: Feind vernichten."; PAR-Trupp hinter einem Baum kauernd - "Feuer!" - zwei Schüsse] 120 Offiziersanwärter aus Wiener Neustadt.
[PAR-Trupp hinter dem Baum kauernd] "Verzögerung des Feindangriffs". So lautet der Befehl. Der hohe Preis für
[Blick von der PAR-Stellung auf einen auf einer gegenüberliegenden Straße vorbeifahrenden Pandur EVO] den Durchmarsch durch unser Land soll abschreckend wirken
[Zwei Soldaten mit einem PAR durch den Wald laufend] - in der Theorie.
Bruno Hofbauer (Stv. Generalstabschef)
: "Ich glaub' ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass hier das Bundesheer doch einiges nachzuholen hat. Die letzten dreißig Jahre sind nicht ohne Spuren an uns vorbeigegangen.
Die Schweiz hat bei weitem diese Politik der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der Neutralität nicht so abgelegt wie wir. Wir haben uns viel stärker dafür nach
außen orientiert und sind in die internationalen Einsätze gegangen."
[Stefan Gehrer im Gespräch mit Genlt Hofbauer in seinem Büro in der Rossauer Kaserne] Dass der Chefstratege des Bundesheers die Schweiz zum Vergleich heranzieht, ist natürlich kein Zufall.
[Überblendung: BK Raab am Flugplatz Bad Vöslau, vor dem Abflug nach Moskau; im Hintergrund eine Ilyushin Il-12 mit sowjetischem Hoheitszeichen] Als sich am 11. April 1955 diese
[Raab, Schärf, Figl und Kreisky vor dem Flugzeug] vier Herren auf den Weg nach Moskau machen, wissen die Sowjets schon,
[Parade sowjetischer Soldaten vor dem Flugzeug] was sie als Gegenleistung für den Truppenabzug verlangen:
[Unterzeichnung des Moskauer Memorandums durch Raab] Eine Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz.
[Unterschriften auf dem Dokument] Raab, Schärf, Figl und Kreisky versprechen genau das per Unterschrift im Moskauer Memorandum.
[Details des Dokuments: "Memorandum über die Ergebnisse der Besprechungen zwischen der Regierungsdelegation der Republik Österreich und der Regierungsdelegation der Sowjetunion"] Die Sowjets ziehen ab und
[Abstimmung über das Neutralitätsgesetz im Reichsratssitzungssaal] am 26. Oktober beschließt der Nationalrat
[Julius Raab bei seiner Rede im Nationalrat, dahinter die Präsidenten, davor sitzend Schärf] das Neutralitätsgesetz.
Ralph Janik (Völkerrechts-Experte): "Die Neutralität war eine Art ,salomonische Lösung', weil die Sowjetunion hat realisiert, dass sie Österreich nicht mehr in ihren Einflussbereich bekommen wird. Der Westen hat realisiert, dass Österreich nicht so wertvoll ist, dass man es um jeden Preis in seinen militärischen Einflussbereich bekommen muss. Und das war dann gewissermaßen der Kompromiss, zu sagen: ,Weder dem einen, noch dem anderen'.
Und das ist ja genau das, was Neutralität bedeutet: Weder - noch."
[Ralph Janik in seinem Büro an der Universität Wien] Analysiert der Völkerrechtsprofessor. Während
[Fliegerabwehrraketen "Rapier" in Stellung oberhalb eines Schweizer Sees] sich die Schweiz stark bewaffnet,
[Fliegerabwehrkanonen 63/90 auf einem Schießplatz; zwei Soldaten mit MANPADS "Stinger"] und der EU bis heute fern bleibt,
[Wehende österreichische Flagge] macht Österreich das Gegenteil: Beitritt zur UNO
[Historische schwarzweiß-Aufnahme des Sitzungssaals des UN-Sicherheitsrats; Sprecher im Sitzungssaal: "Hungary, Italy, Austria, Romania ..."] noch 1955,
[Flaggen der OSZE vor der Hofburg in Wien] später kommt die OSZE nach Wien.
[Abgedunkelter Veranstaltungssaal mit vielen Menschen, einer Bühne und dahinter einem Bildschirm mit Europaflagge und roter Aufschrift "Österreich ist in der EU"] Und 1995 der Gang nach Brüssel.
[Festsaal mit Bildschirm mit Aufschrift "LISBOA", darunter auf einer Bühne versammelte Minister und zwei Minister die die Beitrittsverträge unterzeichnen, auf dem Bildschirm erscheint die österreichische Flagge, Stimme im Hintergrund: "Republice da Austria"] Zwölf Jahre später:
[BK Gusenbauer und BM Plassnik bei der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon] In Lissabon wird mit großem Pomp der neue EU-Vertrag unterzeichnet. Der hat es in sich: Denn er beinhaltet eine militärische Beistandspflicht. Österreich pocht mit der Irischen Klausel auf seine Neutralität.
[Hand bei der Unterschrift] Das bedeutet:
JANIK: "Dass einerseits alle EU-Länder Österreich zu Hilfe kommen müssen - aber andererseits Österreich nicht allen zu Hilfe kommen muss. Jedenfalls nicht militärisch zu Hilfe kommen muss.
Das ist auch der Grund, warum uns dann und wann auch von anderen EU-Ländern vorgeworfen wird, wir wären eine Art sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer, Parasit oder gar Schmarotzer."
[Bildschirm eines Radarbedieners in der EZ/B] Die nächste Feuerprobe: ,Sky Shield'. Das ist ein gemeinsamer europäischer Schutzschirm gegen Drohnen
[Kamera schwenkt über Radarbediener in der LRÜZ der EZ/B] und Raketen aus dem Osten. Ist
das noch mit der Neutralität vereinbar?
HOFBAUER: "Solang' in Österreich eine souveräne Entscheidung über den Waffeneinsatz erfolgt, ist das ein österreichisches Mittel zur Abwehr von Bedrohungen, zum Schutz der Bevölkerung."
JANIK: "Schwierig wird es dann, wenn man sagt, man verteidigt den Luftraum gemeinsam. Und diese gemeinsame Luftraumverteidigung so weit geht, dass man eigentlich von einem militärischen Bündnis im Sinne des Neutralitätsgesetzes sprechen muss. Weil es ist eben keine reine EU-Initiative, sondern, im breiteren Sinne, eine NATO-Initiative."
[Soldaten mit Pandur EVO während der Übung im November] Gar nicht mehr schwierig wäre diese Frage, wenn Österreich seine Neutralität aufgeben würde. Wäre das überhaupt möglich?
JANIK: "Es gibt den Mythos, man bräuchte die Zustimmung von allen Alliierten - also USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich und Russland, als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Das stimmt rechtlich aber nicht. Österreich könnte jederzeit - wenn es das
wollte! Die Bevölkerung will es ja nicht - aber rein theoretisch - jederzeit die Neutralität auch wieder zurücknehmen."
GEHRER: "Und wie?"
JANIK: "Man müsste das per Verfassungsgesetz tun. Weil die Neutralität in der Verfassung, in einem eigenen Gesetz verankert ist. Und zusätzlich auch neutralitätsrechtlich, im Völkerrecht, einen einseitigen Widerrufungsakt machen. Also öffentlich erklären: Wir sind jetzt nicht mehr immerwährend neutral."
[Soldaten mit Pandur EVO während der Übung im November] Ein unwahrscheinliches Szenario. Denn
[Straße in der Wiener Innenstadt mit Weihnachtsbeleuchtung und Fußgängern] laut Umfragen wollen drei Viertel der Bevölkerung an der Neutralität festhalten, also - andersrum gedacht:
GEHRER: "Was müsste passieren, damit man sagt: ,O.K., der Vorwurf des ,Trittbrettfahrers', der wäre jetzt nicht mehr gerechtfertigt. Die Neutralitätspolitik ist überzeugend, so wie sie ist.' Was braucht es dafür?"
JANIK: "Ein neutrales Land, das die eigene Landesverteidigung ernst nimmt, in dem Sinne, dass es ausreichend Soldaten hat und ausbildet und auch ausreichend Kriegsgerät anschafft, wird viel weniger dafür kritisiert werden als eine Art ,Schmarotzer' oder ,sicherheitspolitischer Parasit', als ein neutrales Land, das nichts für die Landesverteidigung tut, umgekehrt aber von den anderen aber im Ernstfall verlangen würde, Schutz zu bekommen."
HOFBAUER: "Unbestritten ist, dass wir das Bundesheer dorthin wieder aufbauen
müssen. Dass gerade - Sie haben es angesprochen - im Bereich der Luft
verteidigung hier Mankos bestehen. Sowohl in der bodengebundenen Luftabwehr, wie auch in der Frage von Kampfflugzeugen. Aber das ist kein
unlösbares Problem! Es läuft nur die Zeit."
[Waffenstation WS4 Mk2 auf einem Pandur EVO] In der Buckligen Welt haben die Verteidiger ihre Zeit genutzt. Sie
[Soldaten mit StG77 in Stellung an einer Straße] konnten den Angriff verzögern. Aber eben nur ,verzögern'.
Einen Feind vernichten - das kann die Neutralität nicht. Und auch das Bundesheer derzeit
nicht.
[Soldaten beim Bedienen des Rundumsichtsystems am ETC des Kommandanten im Pandur EVO] Diesen Job müssen - Stand heute - andere übernehmen
[Pandur EVO am Ortsrand beim Abfeuern einer Salve mit der Waffenstation].
Bericht: Stefan Gehrer
MAYR-BOHUSCH: "Also auch in der Verteidigung verlässt sich Österreich ganz gerne auf die Europäische Union und profitiert im Notfall hoffentlich von den europäischen Beistandsverpflichtungen.
Die Gesamtbilanz nach drei Jahrzehnten in der Europäischen Union kann sich insgesamt sehen lassen und fällt, objektiv betrachtet, fast durchwegs positiv aus. Die Herzen vieler Österreicherinnen und Österreicher aber, die hat die EU noch immer nicht wirklich erreicht. Es bleibt ein kompliziertes Verhältnis."