Wolfgang Schüssel: „Härte ist die einzige Sprache, die Putin versteht“
Russland will mit kriegerischen Mitteln Grenzen verschieben, für US-Präsident Trump gilt nur noch „America First“, das kommunistische China strebt nach Vorherrschaft. Wie kann Europa als letzter Vegetarier in dieser neuen Welt der Fleischfresser bestehen?
Wolfgang Schüssel: Europa muss aufwachen, sich die Augen reiben, aufstehen und selbstständig werden. Das ist die entscheidende Herausforderung. Noch vor der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder gar der Europäischen Union gab es anfangs die Grundidee einer Verteidigungsgemeinschaft, die jedoch 1954 in der französischen Nationalversammlung durchgefallen ist. Wir kehren jetzt wieder dorthin zurück. Diese wichtige Weichenstellung wird uns Europäern nun aufgezwungen.
Noch befindet sich Europa unter dem Schutzschirm der USA. Auf sich allein gestellt, wäre Europa wohl noch nicht ausreichend verteidigungsfähig.
Die Amerikaner verfügen in Europa immer noch über 500 militärische Einrichtungen, 200 Militärflugplätze und 80.000 stationierte Soldaten. Unter US-Präsident Biden sind 20.000 neu dazugekommen, um die Ostflanke gegen Russland zu schützen. Europa wird das schon zusammenbringen. Aber hoffentlich haben wir noch eine gewisse Zeit den nuklearen und logistischen Schirm der USA. Das kann Europa nicht so schnell kompensieren.
Die USA sind parteienübergreifend der Ansicht, dass die Europäer 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges nun endlich selber für ihre Sicherheit sorgen müssen.
Trotzdem wäre es wichtig, dass die transatlantischen Beziehungen aufrecht bleiben. Auch im Interesse der Amerikaner. Sie werden keine besseren Partner als die Europäer finden. Das wird für sie bei Konfrontationen und Wettbewerbssituationen wichtig sein. Doch es ist jetzt Europas Aufgabe, autonom zu werden und eigene Systeme zu entwickeln, und zwar nicht nur bei Waffen. In Wahrheit sind wir Europäer total abhängig. Wir waren von russischem Gas abhängig, wir sind von Solarpanels, Elektronik, Halbleitern und seltenen Erden aus China abhängig. Und wir sind außer im Sicherheitsbereich auch massiv digital von den Amerikanern abhängig. Fast alles, was in Clouds über das Internet gespeichert wird, läuft über amerikanische Systeme.
Sie haben den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor einem Vierteljahrhundert kennengelernt. Wie beurteilen Sie seine persönliche Entwicklung?
Putin hat sich völlig verändert. Er war ein ganz anderer Mensch, als ich ihn zum ersten Mal in St. Anton traf: offen, sehr rational, kontrolliert, hochintelligent und international interessiert. Wir führten intensive Gespräche – auf Deutsch, das er hervorragend beherrschte. Putin wollte Russland damals glaubhaft nach Europa führen. Russland hat sich unter Putin zunächst enorm entwickelt.
Wann ist Putin falsch abgebogen?
Es war ein schleichender Prozess. Die orange Revolution in der Ukraine spielte eine Rolle. Die Debatte um einen Nato-Beitritt der Ukraine, den Merkel 2008 beim Gipfel in Bukarest abbog, war auch eine Wegmarke. Die Massenproteste in Moskau, angeführt von Alexej Nawalny, am Ende von Putins Intermezzo als Ministerpräsident 2011 haben bei ihm etwas verschoben. Massiv zur Verhärtung trug sicher seine monatelange Corona-Quarantäne bei, in der dieses neoimperialistische Grundmotiv immer stärker zum Vorschein kam. Heute ist die Sache vollkommen aussichtslos. Mit Putin wird es kein Zurück mehr geben können. Das ist meine feste Überzeugung.
Wie geht man mit so einem Aggressor um?
Härte ist die einzige Sprache, die Putin versteht. Nur wenn ihm die Generäle sagen, dass eine Fortsetzung des Krieges sinnlos ist oder die Ukrainer womöglich vor Rückeroberungen stehen, wird er vielleicht einlenken.
Das heißt, dass der Westen der Ukraine verstärkt helfen müsste.
Ja, das glaube ich. Das ist zwar nicht unbedingt populär, aber es ist die einzige Botschaft, die der Kreml verstehen würde. Gewinnen wird diesen Konflikt niemand, auch die Russen nicht. Sie haben heute wesentlich weniger Gebiete unter ihrer Kontrolle als ein paar Wochen nach dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine. Auch eine Offensive bei Sumy wird nicht den großen Durchbruch bringen. Was wäre gewonnen? Ein paar Quadratkilometer unbewohnbares Gebiet, Mondlandschaften, in denen sich in den nächsten 50 Jahren keine Menschen ansiedeln werden. Das ist alles irrational.
Sind Sie dafür, Verteidigungsanleihen zu begeben, um Europas Aufrüstung zu finanzieren?
Warum nicht? Langfristige europäische Investitionen in Verteidigung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind absolut notwendig und daher sinnvoll. Das kann jeder nachvollziehen.
Sollte Österreich mitmachen?
Da kann Österreich natürlich mitmachen. Wir müssen ja auch selber einiges tun. Österreich war wie viele andere Länder Trittbrettfahrer in dieser transatlantischen Sicherheitsallianz.
Soll Österreich sich künftig im europäischen Verbund verteidigen?
Ich rechne es dem damaligen Bundeskanzler Viktor Klima hoch an, dass wir gemeinsam die Verfassung ändern konnten. Und dadurch haben wir ermöglicht, dass wir im Rahmen eines europäischen Mandats die Beistandsverpflichtung, die wir im Artikel 42,7 im Lissabon-Vertrag übernommen haben, vollkommen erfüllen können. Wenn Österreich angegriffen wird, schützt uns das. Und wenn ein anderer EU-Mitgliedstaat attackiert wird, müssen wir genauso mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln parat sein. Mandate der UNO und der EU hebeln die Neutralität aus. Das muss man ganz klar kommunizieren.
Sollte es eine gemeinsame europäische Luftraumüberwachung geben?
Eine regionale Luftraumüberwachung mit Nachbarstaaten ergäbe Sinn. Das hätte ausschließlich defensiven Charakter und wäre der Bevölkerung deshalb leicht zu erklären.
https://www.diepresse.com/19769239/wolf ... n-versteht
Wolfgang Schüssel (ÖVP) im „Journal zu Gast“
7.6.2025, 12.08 Uhr
Ö1 Mittagsjournal
Katja Arthofer: "Sie haben den Krieg angesprochen. Das ist eine große Zäsur, militärisch, für Europa. Weil die Garantie ,Die USA werden's schon richten', die jahrzehntelang gegolten hat, die gibt's nicht mehr. Dafür aber eben Krieg. Der Überfall Putins auf die Ukraine 2022 hat da die EU aus einer Art Dornröschenschlaf geholt und jetzt wird überall wieder ins Heer investiert.
Aber hätte Europa da nicht schon viel früher reagieren müssen?"
Wolfgang Schüssel: "Da haben Sie sicher recht. Und ich glaub' natürlich, wir waren - vor allem seit '45, 1945 - wirklich von den Amerikanern verwöhnt.
Ich denk' dran '45 bis '55: Besatzungszeit in Österreich. Da haben uns die Amerikaner vor manchen und vielen Übergriffen durch die Sowjets gerettet und bewahrt. Dann der Marshallplan in den späten '40er-Jahren. Der hat uns den wirtschaftlichen Aufbau in einem atemberaubenden Tempo ermöglicht. Alle anderen osteuropäischen Länder, die das nicht gehabt haben, sind weit zurückgefallen. Dazu kam natürlich die kulturelle Bereicherung und die Sicherheitsgarantien! Und alle Europäer waren eigentlich Trittbrettfahrer - auch wir Österreicher natürlich. Und das hat sich mit dem Ende des Kalten Kriegs noch verschärft! Alle Armeen sind mehr als halbiert worden, man hat eigentlich 2000 Milliarden Friedensdividende konsumiert. Und jetzt sind wir aufgewacht. Wir sind nicht in einer Zeit nach einem Krieg, sondern wir waren in einer Zeit vor dem Krieg, der jetzt in der Ukraine voll ausgebrochen ist. Und jetzt muss nachgerüstet werden, damit wir wieder abschrecken können und unseren Menschen Sicherheit geben."
ARTHOFER: "Wann spätestens hätte denn Europa reagieren müssen? Man weiß ja schon länger, in welche Richtung Putin marschiert. 2003 die Verhaftung Chodorkowskis, 2007 die berühmte Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er ja der westlichen Welt sehr deutlich die Rute ins Fenster gestellt hat. Und dann schließlich 2014 der Einmarsch auf der Krim. Hätte spätestens da Europa reagieren müssen?"
SCHÜSSEL: "Also die ersten zwei Daten würd' ich jetzt auch mit einem gewissen Fragezeichen noch bewerten. Ich glaub' dass Putin in den ersten ... Präsident Vladimir Vladimirowitsch Putin in den ersten Jahren seiner Amtszeit eigentlich sehr offen gewesen ist. Auch versucht hat, Russland in eine liberalere Ordnung hineinzubringen. Das hat auch sehr gut funktioniert: Ich erinnere nur an seine Rede im deutschen Bundestag, wo man jedes Wort unterstreichen konnte, wo's nachher Standing Ovations von allen politischen Parteien gegeben hat. ["Das war Anfang der 2000er halt ... Schon lange her."] Ja, ja und das hat sich dann ... ja, schon, aber es hat sich eine Zeit lang gehalten und ist dann gekippt! Und zwar graduell! Das ist nicht ein ... ein Event oder ein Ereignis gewesen, sondern das ist schleichend gegangen. Und vor allem ab 2014 - da haben Sie völlig recht - da war eigentlich die Zeit vorbei, wo man noch naiverweise glauben konnte: Das wird alles so weitergehen mit einer friedlichen Entwicklung, ein Wirtschaftraum gemeinsam von Lissabon bis Wladiswostok. Da hätte man eigentlich spätestens die Dinge besser und schärfer akzentuieren müssen und mehr in die eigene Sicherheit investieren. Und es hat ja auch vor Trump haben das viele amerikanische Präsidenten ja schon längst gesagt!"
ARTHOFER: "Lassen Sie uns zurückkommen zu den militärischen Herausforderungen für die Europäische Union. Da wird, wie gesagt, jetzt viel mehr Geld für die Verteidigung in die Hand genommen. Aber das, was da jetzt passiert, aus Ihrer Sicht, reicht das?"
SCHÜSSEL: "Ich glaub' eigentlich, dass Europa nach wie vor die Chance hat - vor allem auch mit den Briten gemeinsam und mit den Norwegern; also die europäischen Partner der NATO plus natürlich die EU-Mitgliedsstaaten - wir haben eine Wirtschaftskraft, die um ein vielfaches Russland übertrifft. Und auch die Verteidigungsausgaben, die wir jetzt schon machen - also noch bevor die Nachrüstung jetzt wirksam wird - ist eigentlich so, dass es nicht am Geld liegen kann! oder nicht am Geld liegen wird.
Was notwendig ist, ist über die finanzielle Situation hinaus eine bessere Koordination und Abstimmung innerhalb Europas. Wir kaufen ja noch immer 80 % der Systeme, der Waffensysteme, von den Amerikanern!"
ARTHOFER: "Ist ein EU-Heer aus Ihrer Sicht nötig?"
SCHÜSSEL: "Es, glaub' ich, ist vor allem nötig, eine gemeinsame kooperative Aufstellung, um zum Beispiel für einen allfälligen Krisenfall gewappnet zu sein. Und das ist nicht die Frage eines ,Heers', eines ständigen Heers, sondern das ist die Frage der Fähigkeiten! Und ich glaube diese Fähigkeiten müssen wir entwickeln. Und ob das dann im Falle der Battlegroups - das gibt's ja schon - eine konkrete gemeinsame Einheit ist oder ob das die Kooperation verschiedener Fähigkeiten in mehreren Ländern sind, ist eine zweite Frage!
Wo es sicher interessant wäre - grad' aus österreichischer Sicht - wär' zum Beispiel eine räumliche, regionale Luftraumüberwachung und -verteidigung. Der Sky Shield ist ein solches Projekt. Aber man könnte auch natürlich die Luftraumüberwachung durch die Flugzeuge gemeinsam mit den Nachbarstaaten besser organisieren."
https://orf.at/av/audio/104778
6. Juni 2025
- Verdrängen, vermeiden: Die ewige Lust auf schlampige Verhältnisse (Kolumne)
Wie in Österreich zu beobachten ist, verschwinden ja jene Fragen nicht, die mit viel Aufwand vermieden werden. Jene nach Neutralität und Nato-Beitritt zum Beispiel. Als Wolfgang Schüssel sie als Bundeskanzler diskutieren wollte und Bundespräsident Thomas Klestil sie 1992 und dann wieder wenige Monate vor dem Ende seiner Amtszeit zur Diskussion stellte, war vor nunmehr fast 25 Jahren die Aufregung groß – aber nicht lang.
Österreich ist wahrscheinlich Europameister im Verdrängen und Vermeiden jeder grundsätzlichen, einigermaßen niveauvollen und nachhaltigen Diskussion bis zur Klärung eines Problems und zu politischen Festlegungen. Persönliche Angriffe und verächtliche Reaktionen werden für Politik gehalten – von welcher Seite immer. Wenigstens darin scheinen sich alle im Parlament vertretenen Parteien einig zu sein.
https://www.diepresse.com/19770664/verd ... haeltnisse