Nationalrat endete kurz nach Mitternacht
Einstimmig wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Sicherheitsstrategie Österreichs zu überarbeiten und Auslandseinsätze finanziell aufzuwerten.
https://orf.at/stories/3314241/
Bleiben wir ewig selig auf der neutralen Insel Österreich?
Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert auch das Bedrohungsszenario für Österreich. Das Heer wird hochgerüstet – an der Neutralität wird nicht gerüttelt. Ist das klug oder riskant?
Militär statt Hochwasserarmee
Die neue geopolitische Lage erfordere eine Neuorientierung, befindet man im Verteidigungsressort: Soldaten und Soldatinnen sollen sich in Zukunft auf genuin militärische Aufgaben konzentrieren statt auf Katastrophen- und Hilfseinsätze. Aber wie die österreichische Version der "Zeitenwende", wie sie in Deutschland genannt wird, genau aussieht, ist noch offen: Denn die Neutralität wird hinter vorgehaltener Hand als Risiko bezeichnet, offiziell aber nicht angerührt.
Der Republik soll nun eine neue Sicherheitsdoktrin verpasst werden, kündigte die Regierungsspitze Anfang April an. Die aktuell gültige ist zehn Jahre alt, Russland wird darin noch als "wesentlicher Partner" bezeichnet. Die neue Doktrin soll noch in dieser Legislaturperiode, die planmäßig bis Herbst 2024 läuft, verabschiedet werden. Die Opposition will in die Pläne eingebunden werden und fordert baldige Debatten im Parlament.
"Brückenbau-Funktion"
Inhaltliche Details sind noch keine bekannt, so viel aber wurde bereits versichert: Österreichs Neutralität wird darin zentraler Bestandteil bleiben. Es gelte, die Neutralität "weiterzuentwickeln", sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne). Innerhalb der EU habe sie weniger Bedeutung, außerhalb hingegen sei sie wichtig für Österreichs Rolle als "Mittler", erklärte Nehammer. Der Kanzler hat Diskussionen über die Neutralität schon vor Monaten eine Absage erteilt.
Er halte die Neutralität für einen wichtigen Teil der neuen heimischen Sicherheitsstrategie, sagte Nehammer auch beim jüngsten "Kanzlergespräch", einem regelmäßigen Hintergrundgespräch mit Journalistinnen und Journalisten, an dem auch DER STANDARD teilnahm. Österreich erfülle damit eine "Brückenbau-Funktion" und leiste als "Türöffner in den europäischen Raum" einen besonders wertvollen Beitrag. Gerade im Gespräch mit Drittstaaten sei der neutrale Status ein Vorteil, weshalb man daran nicht rütteln solle.
Keine Insel der Seligen
Dabei gab es schon vor dem Krieg in der Ukraine kaum Bündnisfreie mehr in der EU. Seit dem Nato-Beitritt Finnlands (vollzogen) und Schwedens (geplant) haben außer Österreich nur mehr Irland, Malta und Zypern diesen Status, drei Inseln also und ein Land, das lange den Mythos gepflegt hat, eine Insel der Seligen zu sein. Politikwissenschafterin Velina Tchakarova sagt, es sei eher eine "Insel der sicherheitspolitischen Realitätsverweigerer". Tchakarova war bis vor kurzem Direktorin des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik in Wien. Sie hat zwei offene Briefe unterzeichnet, die auch zahlreiche weitere Expertinnen, Unternehmer und Politiker unterschrieben haben.
Darunter sind so prominente Köpfe wie die früheren österreichischen Verteidigungsminister Herbert Scheibner (FPÖ) und Friedhelm Frischenschlager (FPÖ, heute Neos), der EU-Parlamentarier Othmar Karas und Ex-Nationalratspräsident Heinrich Neisser (beide ÖVP), die einstige Höchstrichterin Irmgard Griss oder der Direktor der Diplomatischen Akademie, Emil Brix. Sie alle fordern ein breiteres Umdenken und kritisieren die "Illusion, Österreich könne so bleiben, wie es ist, sich heraushalten und mit etwas mehr Geld für das Heer das Auslangen finden".
"Verstärkte Kooperation" gefordert
Aber auch aus dem Bundesheer selbst kommt Bewegung in die Neutralitätsdebatte: Die Österreichische Offiziersgesellschaft, kein ganz unwesentlicher Verband innerhalb der Streitkräfte, hat in ihrem Positionspapier 2023 jüngst eine "ergebnisoffene Analyse über die bestmögliche sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung" und eine Debatte "ohne ideologische Einschränkungen und populistische Vereinfachungen" gefordert. Österreich sei "keine sicherheits- und verteidigungspolitische Insel, sondern liegt inmitten eines sich dynamisch verändernden Europas", schreiben die Offiziere. Und: Man fordert zumindest eine "verstärkte Kooperation mit internationalen Partnern". Denn: Es stehe Österreich nicht gut an, sicherheitspolitischer "Trittbrettfahrer" zu sein, sich also ohne Gegenleistung auf Schutz der Nachbarstaaten zu verlassen.
In der aktiven Politik stellt dagegen niemand Österreichs neutralen Status in Frage, weder die Regierung, noch die Opposition. Öffentlich trauen sich nur Ex-Politiker an der Neutralität zu rütteln. Warum das so ist? Zumindest einen wesentlichen Teil der Antwort liefern die Meinungsumfragen. Denn dort spricht sich regelmäßig eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für die Beibehaltung der Neutralität aus. In einer erst diese Woche veröffentlichten Gallup-Befragung waren es 77 Prozent. Heißt: Wer eine Abschaffung der Neutralität fordert, hat damit politisch nichts zu gewinnen.
Verteidigungsministerin Tanner rückt dennoch nicht von ihr ab, im Gegenteil: Militärische Neutralität sei in der jetzigen Situation "die absolut richtige Antwort" und "unabdingbar notwendig", sagte sie kürzlich zur "Tiroler Tageszeitung". Auf STANDARD-Nachfrage heißt es aus dem Ministerium nur, man würde "aufgrund der weltweiten sicherheitspolitischen Entwicklungen und Bedrohungen" strategische Fragen "laufend analysieren und in unsere Planungen einfließen" lassen.
"Absolut die richtige Richtung"
In Österreich gehe es momentan "absolut" in "die richtige Richtung", befindet auch Lukas Mandl. Der Niederösterreicher sitzt seit 2017 als ÖVP-Abgeordneter im EU-Parlament, er ist dort stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und gehört den Ausschüssen für innere Sicherheit, Arbeitsmarkt und Außenpolitik an. Es liege in der Natur der europäischen Beistandsklausel, dass von Fall zu Fall entschieden werde, wie jedes Land seine Solidarität ausdrücke, sagt er: Jedes Land leiste den Beitrag, den es leisten könne.
Mandl sagt auch, er "verhehle nicht, dass wir bisher schon unter dem Schutzschirm der Nato waren und wir davon profitieren, dass Finnland der Nato beigetreten ist und Schweden folgen wird, auch weil es europäische Werte stärkt". Österreich habe schon "lange Zeit ein sehr gutes Verhältnis in absolut aufrechter Neutralität" mit der Nato. Deshalb plädiere er dafür, die "Partnerschaft zu vertiefen". Die Herausforderung bestehe jetzt darin, die Neutralität "richtig anzuwenden".
Agieren statt reagieren
Schlagworte dieser Art sieht Franz Eder, Dekan der Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften in Innsbruck und spezialisiert auf Sicherheitspolitik, kritisch. Sowohl bezüglich der Neutralität als auch bei der Aufrüstung der Streitkräfte. "Wir wissen jetzt, dass das Bundesheer viele neue Ressourcen bekommt", sagt Eder. "Wir wissen aber nicht, was genau es damit eigentlich machen soll."
Dass die künftigen Investitionen ins Heer schon beschlossen wurden, bevor der Inhalt einer neuen Sicherheitsstrategie überhaupt ausformuliert sei, hält er für genau den falschen Weg. Es müsste eigentlich umgekehrt sein, argumentiert der Sicherheitsexperte. Der Politik "sowohl in der Regierung als auch in Opposition" attestiert er eine weitreichende Unfähigkeit, mittel- bis langfristige Ziele zu definieren. Man weiche entscheidenden Fragen aus. "Dabei wäre es eine zentrale Aufgabe der Politik, ihren Gestaltungsauftrag wahrzunehmen." Stattdessen werde allzu oft nur reagiert statt agiert – in diversen Politikfeldern, in der Sicherheitspolitik ganz besonders. Die Ergebnisse von Umfragen, ist auch Eder überzeugt, dürften für die jeweiligen Reaktionen jedenfalls da wie dort nicht ganz unwesentlich sein.
https://www.derstandard.at/story/200014 ... esterreich
- Österreich ist keine Brücke – und Neutralität noch keine Tugend (Kommentar)
Während anderswo in Europa sicherheitspolitische Positionen diskutiert werden, beharrt die Regierung auf eine Doktrin voller Widersprüche. Dadurch droht die Isolation
Unstimmigkeiten ergeben sich auch aus dem Modus Vivendi, den die türkis-grüne Koalition bei den Abstimmungen über eine EU-Militärhilfe für Kiew gefunden hat. Sie enthält sich in Brüssel "konstruktiv", wie sie sagt, um die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs zu ermöglichen. Die Regierung will also die Unterstützung nicht torpedieren, aber "militärisch neutral" bleiben.
Um diese Haltung zu verbildlichen: Das Haus des Nachbarn brennt, er ruft um Hilfe. Wir wollen unseren Feuerlöscher nicht hergeben, hindern aber zumindest die anderen Nachbarn nicht daran, es zu tun. Die Neutralität sieht allerdings durchaus gewisse Handlungsmöglichkeiten vor, wie Österreich es mit seiner stets recht flexiblen Auslegung selbst vorexerziert hat. Grundsätzlich verbietet die Neutralität militärische Hilfe, das Prinzip ist jedoch seit dem EU-Beitritt nicht mehr in vollem Umfang gültig. Dass Österreichs Support für die Eumam-Mission zur Stärkung der ukrainischen Armee zulässig ist, die Ausbildung von ukrainischen Panzerfahrern aber nicht, erscheint nicht schlüssig.
Was hierzulande gerne als Tugend ausgelegt wird, offenbart viel mehr einen fragwürdigen Charakter. Auch weil wir uns, um beim Bild zu bleiben, für den Fall, dass es bei uns einmal brennen sollte, sehr wohl darauf verlassen, dass unsere Nachbarn uns zu Hilfe eilen: die EU, vor allem aber die Nato, denn ohne den mächtigen Nato-Partner USA an der Seite ist die gesamte Union nicht wehrfähig.
Dass die Neutralität – ihre Grenzen und auch ihr eventuelles Ende – nicht von der Staatsspitze abwärts unter Einbindung der Bevölkerung zur Debatte gestellt wird, ist angesichts der veränderten geopolitischen Großwetterlage ein grobes Versäumnis. Schweden und Finnland haben diese Diskussion geführt, Politik und Bevölkerung entschieden sich am Ende für die Nato. In Irland sind öffentliche Foren in Planung, auch die Schweiz steckt gerade die Grenzen ihrer Neutralität neu ab. Österreichs Regierung beharrt hingegen auf der Neutralität und rühmt sie als wertvolles diplomatisches Instrument.
Die vielzitierte "Brückenbau"-Funktion ist allerdings ein Mythos und eine rein österreichische Selbstwahrnehmung, die außerhalb der Landesgrenzen niemand teilt. Dass Bündniszugehörigkeit und Diplomatie einander nicht ausschließen, lebt das Nato-Gründungsmitglied Norwegen vor. Österreich ist keine Brücke – und sicherheitspolitisch nirgendwo klar verankert.
https://www.derstandard.at/story/200014 ... ine-tugend