Die USA, Frankreich und Deutschland haben der Ukraine erlaubt, mit westlichen Waffen auch gewisse Gebiete in Russland anzugreifen. Was halten Sie davon?
Klaudia Tanner: Damit wurde eine rote Linie überschritten. Daher bin ich sehr froh über die Klarstellung des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, dass die Nato keine Truppen in die Ukraine entsenden wird.
Die Freigabe wurde damit begründet, dass es der Ukraine sonst nicht möglich sei, sich bei der Verteidigung Charkiws ausreichend gegen Beschuss aus dem russischen Grenzgebiet zu wehren. Soll ihr das nicht möglich sein?
Als militärisch neutraler Staat steht es uns nicht zu, darüber zu richten.
Sie haben immer wieder betont, dass man im Ukraine-Konflikt die diplomatischen Kanäle öffnen und sich für Frieden einsetzen müsse. Wie soll das funktionieren?
Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd hat eine gute Initiative gestartet – den Friedensgipfel (Mitte Juni in der Schweiz, Anm.), an dem auch Bundeskanzler Karl Nehammer teilnimmt.
Allerdings nimmt an diesem Gipfel Russland nicht teil, auch die Chinesen fehlen.
Nach zwei Jahren Krieg ist jede Initiative, die Richtung Frieden geht, sinnvoll.
Laut Experten wie Oberst Markus Reisner vom Bundesheer hat Russland im Krieg militärisch derzeit die Oberhand. Warum sollte Russlands Präsident Wladimir Putin derzeit Interesse an Frieden haben?
Wir erleben einen Abnützungskrieg, das Momentum liegt bei Putin. Man muss aber alles daransetzen, dass es zum Frieden kommt.
Vergangene Woche ist Österreich der „Sky Shield“-Initiative beigetreten, für das Militär sollen Mittel- und Langstreckenabwehrsysteme beschafft werden. Können die Käufe noch in dieser Legislaturperiode abgewickelt werden?
Wir haben zum Schutz der Österreicher und Österreicherinnen gegen Bedrohungen aus dem Luftraum bereits Schritte gesetzt. In unserem Aufbauplan 2032+ sind die Systeme, die kürzere und mittlere Reichweiten decken, enthalten. Europaweit haben wir als Erste das „Skyranger“-System (mit diesem können Drohnen und andere tieffliegende Objekte abgeschossen werden, Anm.) beschafft, das auf unsere neuen Pandur-Radpanzer aufgebaut wird. Außerdem haben wir die Modernisierung der Fliegerabwehrkanonen bereits eingeleitet.
Ist es realistisch, dass der Kauf der Mittelstrecken- oder der Langstreckensysteme noch in dieser Legislaturperiode erfolgt?
Jede der teilnehmenden Nationen wird alles daransetzen, dass das so schnell wie möglich geht. Letztlich ist das nicht nur eine Frage des Beschaffungsvorganges, sondern auch der Kapazitäten der Rüstungsindustrie.
Die FPÖ gibt an, es handle sich bei dem Projekt um eine „Nato-Initiative“. Ist das richtig? Als ein Ziel der Initiative gilt ja, den europäischen Pfeiler der Nato-Luftverteidigung zu stärken.
Das ist falsch. Das wissen die Damen und Herren von rechts genau. Die Initiative ist von Deutschland ausgegangen und ist eine europäische Initiative. Es ist eine Beschaffungskooperation, die uns ermöglicht, schneller, effizienter und interoperabel vor Bedrohungen aus der Luft geschützt zu sein.
Es ist also keine Kommandostruktur in irgendeiner Form gemeinsam mit der Nato geplant?
Nein. Die Entscheidung, wie auf eine Verletzung der Souveränität unseres Luftraums reagiert wird, liegt bei jedem Staat selbst.
Bisher handelt es sich bei Österreichs Teilnahme am „Sky Shield“ um rechtlich unverbindliche Schritte. Eine neue Regierung könnte also davon abgehen und die Käufe ablasen.
Ja, bisher war es rechtlich unverbindlich. Angesichts der Sicherheits- und Bedrohungslage bin ich aber überzeugt, dass jede künftige Regierung und Partei die Verantwortung in sich trägt, durch das „European Sky Shield“ Österreich zu schützen.
Noch offen ist die Nachbeschaffung der zweiten Jetflotte für das Bundesheer. Ist bereits entschieden, welcher Typ nachbeschafft wird?
Dazu fehlt noch die Grundlage. Ich erwarte dazu sehr rasch alles, was vom Generalstab notwendig ist.
Darüber wird aber noch in dieser Legislaturperiode entschieden?
Ja.
Überfällig ist die neue Sicherheitsdoktrin, die Ende 2023 vorgelegt werden sollte. Wir haben jetzt Anfang Juni, bisher liegt kein Entwurf vor. Geht sich das unter Türkis-Grün noch aus?
Wir sind mit unserem Bereich der Sicherheitsstrategie seit Monaten fertig. Der Koalitionspartner wird hier auch noch seine Verantwortung wahrnehmen, davon bin ich überzeugt.
Was ist das Problem? Scheitert das tatsächlich an manchen Formulierungen im Energiekapitel?
Diese Frage möge an Kollegin Gewessler (Energieministerin von den Grünen, Anm.) gestellt werden. Viel wichtiger als ein Papier zu schreiben, ist es aber, das Bundesheer mit unserer „Mission vorwärts“ zu einer modernen Armee zu machen.
Unter 34 kleineren europäischen Ländern gibt es mittlerweile nur vier Staaten, deren Sicherheitsstrategie älter ist als jene Österreichs: Portugal, Georgien, Nordmazedonien und Aserbaidschan. Ist man da nicht säumig?
Ich als Verteidigungsministerin bin nicht säumig. Fragen Sie bei Gewessler nach.
Die parlamentarische Bundesheerkommission hat zuletzt Alarm geschlagen: Immer mehr Soldaten wechseln in die Privatwirtschaft oder andere Ministerien, immer mehr junge Menschen machen den Zivil- statt Grundwehrdienst, der Miliz fehlt das Personal. Dünnt das Bundesheer personell aus?
Das Wichtigste ist, dass es die Wehrpflicht gibt. Dafür haben sich die Österreicher und Österreicherinnen 2013 richtigerweise entschieden. Alle meine Vorgänger haben aber vergessen, den Sold der Grundwehrdiener zu erhöhen. Das haben wir jetzt nach mehr als zehn Jahren gemacht. Wir haben den freiwilligen Grundwehrdienst für Frauen ins Leben gerufen, es sind bereits mehr als 190 Soldatinnen eingerückt. In der Miliz haben wir ein zusätzliches Prämiensystem ermöglicht, von 19.100 Milizsoldaten zu Beginn meiner Amtszeit stehen wir nun bei 21.000.
Ist es primär eine monetäre Entscheidung, ob ein junger Mann sich für den Zivil- oder Grundwehrdienst entscheidet?
Das glaube ich nicht, dass es das alleine ist. Aber wir sind es den jungen Frauen und Männern schuldig, dass wir nach über zehn Jahren endlich etwas gemacht haben. Derzeit haben wir österreichweit noch eine Mehrheit, die sich für das Bundesheer entscheidet, in einzelnen Bundesländern ist das bereits nicht mehr so. Wir müssen viel früher ansetzen, um das Interesse und die Begeisterung für das Bundesheer zu wecken. Wir haben bereits mehr als 600 Informationsoffiziere, die dafür bereits in den Schulen unterwegs sind. Und wir bekommen im Jahr rund 16.000 junge Männer und Frauen als Grundwehrdiener, denen wir zeigen können, wie vielfältig das Bundesheer ist und welche Möglichkeiten man hier auch hat.
Neue finanzielle Anreize gab es auch bei der Miliz: Allerdings heißt es, diese Anreize seien nun ausgeschöpft. Müsste man wieder die verpflichtenden Milizübungen einführen?
Jeder, der sich zur Miliz meldet, muss auch verpflichtend üben. Was die Herren von der rechten Seite meinen, und das sollten diese auch offen aussprechen, ist, den Grundwehrdienst von sechs auf acht Monate zu verlängern.
Dieses 6+2 Modell mit verpflichtenden Milizübungen will die FPÖ.
Wir müssen dafür sorgen, dass mehr geübt wird. Alleine heuer haben wir an die 200 Übungen. Nächste Woche beginnt die große Übung „Schutzschild“ mit einem sehr großen Milizanteil. Die „Airpower“ wird heuer nicht nur eine große Flugshow sein, sondern auch eine Übung mit einem starken Anteil an Milizsoldaten.
Eine Umfrage der Universität Innsbruck hat zuletzt ergeben, dass nur knapp 14 Prozent der Befragten dafür sind, dass Österreich einem anderen EU-Staat, der angegriffen wird, militärisch beistehen sollte. Zugleich erwarten 72 Prozent, dass andere EU-Staaten Österreich im Fall eines Angriffes beistehen. Da klaffen die Vorstellungen weit auseinander – sind dafür auch Politik und Medien verantwortlich?
Wir haben uns lange auf einer Insel der Seligen gefühlt. Wir alle. Da brauchen Sie nur nachschauen, was Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen das eine oder andere Mal geschrieben haben. Und ich habe es auch nicht für möglich gehalten, dass der Krieg auf unseren Kontinent zurückkehrt. Es ist aber falsch, Österreich mangelnde Solidarität zu unterstellen: Wir leisten Auslandeinsätze in hoher Qualität und Quantität und es wird international sehr wohl so gesehen, dass wir in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ein glaubwürdiger Partner sind.
Was würde Österreich tun, wenn ein anderer EU-Staat die Beistandsklausel aktiviert?
Je nach Lage ist eine Entscheidung zu treffen. Ob das die Entscheidung ist, Soldaten an die Front zu schicken oder man auf andere Art und Weise hilft, kommt auf das Ereignis an.
Also wäre mehr möglich als eine humanitäre Hilfe?
Selbstverständlich. Das Gesetz gibt uns hier mehrere Möglichkeiten. Denn wer sagt denn, dass ein Angriff immer einer sein muss, der an der Front stattfindet? Die Bedrohungen haben sich verändert. Da wäre die militärische Hilfe vielleicht gar nicht der richtige Weg.
Nach einer Einzelfallbeurteilung könnte Österreich auch militärische Hilfe leisten?
Selbstverständlich, das ist ja bekannt.