Im Jahr 2025 kommt die Republik aus dem Feiern kaum heraus. Das Gedenken gilt: der Ausrufung der Zweiten Republik am 27. April 1945; dem Abschluss des Staatsvertrags von Wien am 15. Mai 1955; dem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995. Ein Jubiläum – noch dazu ein 50-jähriges – wird ignoriert. Am 8. Juli 1975 trat eine Novelle zur Bundesverfassung in Kraft, in der die sogenannte umfassende Landesverteidigung festgeschrieben wurde. Dazu zählen laut Artikel 9a der Verfassung die militärische, die wirtschaftliche, die zivile und die geistige Landesverteidigung. Letztere blieb ein Phantom. 1985, zum zehnten Jahrestag der Novelle, kritisierte der Verfassungsrechtler Felix Ermacora, dass es der Politik „an Phantasie und Wille“ fehle, die Landesverteidigung zu „einem geistigen Anliegen des Volkes zu machen“.
Jahrzehntelang änderte sich daran nichts. Die geistige Landesverteidigung wurde noch mehr vernachlässigt als die militärische. Nun will die Regierung – allen voran Verteidigungsministerin Klaudia Tanner – den Wehrwillen in der Bevölkerung stärken und die Österreicher mental aufrüsten. Aber kann das funktionieren? In einem friedlich gesinnten Land der Pazifisten und Zivildiener? Noch dazu in einem postheroischen Zeitalter?
In einem sicherheitspolitischen Grundsatzpapier, das die Regierung bei ihrer Klausur vergangene Woche diskutierte, findet sich ein forsches Bekenntnis zur geistigen Landesverteidigung. Demnach solle „die österreichische Bevölkerung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik eingebunden werden“. Dazu sind „Bürgerversammlungen in den Bundesländern“ geplant, um einen „einen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern“ zu ermöglichen. An Schulen und Ausbildungseinrichtungen soll außerdem „die Bewusstseinsbildung für Risiken und Bedrohungen sowie Resilienzmaßnahmen“ gestärkt werden. Es gehe darum, „die demokratische Wehrhaftigkeit und ein Sicherheits- und Verteidigungsbewusstsein in der Gesellschaft zu verankern“.
Die geistige Landesverteidigung beginnt bei den jüngsten Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern. Hunderte Informationsoffiziere des Bundesheeres halten Jahr für Jahr Vorträge in den Klassenzimmern. Dazu ist das Verteidigungsministerium in der Schulbuchkommission vertreten, um dort inhaltliche Fehler in militärischen Belangen zu korrigieren.
Im Bildungsministerium verweist man nüchtern, von all den politischen Debatten ungerührt, auf den Lehrplan. Die geistige Landesverteidigung wird vor allem in der achten Schulstufe besprochen. Als Teil der politischen Bildung ist sie aber auch eines der sogenannten übergreifenden Themen, die über mehrere Fächer verteilt behandelt werden. „Für uns im Bildungsbereich hat sich nichts verändert. Die Informationsoffiziere gibt es schon lange, auch im Lehrplan gab es aktuell keine Änderung dazu“, sagt Kristina Mandl, zuständige Gruppenleiterin im Bildungsministerium: „Wichtig ist für uns, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der geistigen Landesverteidigung die Rolle Österreichs nicht nur in einem regionalen, sondern auch in einem europäischen, globalen Kontext begreifen und einschätzen lernen.“ Mit dem Militär hat der Stoff wenig zu tun. Mandl: „Es geht um einen geistigen Beitrag zur Friedenssicherung.“ Um Demokratie, nationale Sicherheitspolitik, Europa, globale Krisen, das Erkennen und den richtigen Umgang mit Fake News.
Eine Neuerung gibt es allerdings doch: Im Regierungsprogramm ist das verpflichtende Fach „Demokratiebildung“ in den Mittelschulen und den Unterstufen von AHS vorgesehen, und auch hier wird die geistige Landesverteidigung behandelt.
Zum zehnten Jahrestag der Novelle, kritisierte der Verfassungsrechtler Felix Ermacora, dass es der Politik „an Phantasie und Wille“ fehle, die Landesverteidigung zu „einem geistigen Anliegen des Volkes zu machen".
In der Theorie soll die geistige Landesverteidigung die ideelle Basis für die militärische sein: Feder vor Sturmgewehr. Eine aktuelle Studie der Universität Innsbruck – befragt wurden 3000 Personen – zeigt allerdings die mangelnde Verteidigungsbereitschaft deutlich auf: Falls Österreich angegriffen wird, erwarten sich 85 Prozent der Befragten militärische Hilfe von einem anderen EU-Staat. Nur 50 Prozent finden, Österreich solle selbst militärischen Widerstand leisten. Und nur 14 Prozent wären bereit, dafür selbst zu einer Waffe zu greifen. Weitere 19 Prozent sind immerhin bereit, sich an der Versorgung von Soldaten oder der Herstellung „kriegswichtiger Güter“ zu beteiligen, also einen militärischen Beitrag im weiteren Sinne zu leisten.
In aller Kürze lässt sich die Einstellung der Österreicher so zusammenfassen: Sollte ein Feind uns überfallen, mögen ihn letztendlich Soldaten aus anderen EU-Ländern bekämpfen. Sollten sie selbst angegriffen werden, dürfen die europäischen Partner aber bitte keine große Gegenleistung verlangen: 58 Prozent der Österreicher würden ihre Unterstützung auf ein absolutes Minimum reduzieren und sich auf die Neutralität berufen.
Ähnlich niedrig ist der Wehrwille nur in Tschechien, Spanien und der Slowakei ausgeprägt. Allerdings: Deren Zahlen stammen aus Umfragen vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Möglich also, dass der Krieg auf dem eigenen Kontinent die Einstellung der Tschechen, Spanier und Slowaken gewandelt hat.
Der Politikwissenschafter Franz Eder ist einer der Autoren der Studie der Uni Innsbruck. Laut Eder hat sich die Einstellung zur Wehrbereitschaft in den vergangenen zwei Jahren nicht wirklich gewandelt, obwohl die Ukraine – Luftlinie – weniger als 500 Kilometer von Wien entfernt liegt.
Wie Eder ausführt, hängt die Wehrbereitschaft von vielen Faktoren ab, etwa von der politischen Einstellung: Menschen, die sich politisch rechts verorten und einen höheren Nationalstolz haben, sind eher bereit, ihr Land zu verteidigen. Oder vom Gerechtigkeitsempfinden: Personen, die sich in einer Gesellschaft gleichgestellt fühlen, sind auch bereit, dafür einzustehen. „Die Resilienz eines Staates ist also auch eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit“, sagt Eder.
Dazu führt der Wissenschafter zwei weitere Gründe an, die den Wehrwillen der Österreicher negativ beeinflussen. Außen- und Sicherheitspolitik spielen für die Befragten eine weniger wichtige Rolle als die Teuerung oder die wirtschaftliche Lage. „Nur wenn Menschen sich existenziell sicher fühlen, können sie sich den ‚Luxus‘ der Wehrbereitschaft leisten“, sagt Eder. „Und nur wenn sie von einer Bedrohung von außen wirklich überzeugt sind, sind sie wiederum bereit, ihr Land auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen.“ Nahezu alle Parteien in Österreich weigern sich außerdem, über den Sinn und die Interpretation der Neutralität zu diskutieren. Eder: „Das führt zu einem Verständnis der Neutralität, als ob sie ein Garant für das Ausbleiben von Kriegen sei.“
Ein Vorbild könnte Finnland sein. Dort wurde die Bevölkerung auf die veränderte geopolitische Lage vorbereitet, so Eder: „Da ging es eben nicht nur um militärische Bedrohungen, sondern um eine breite Resilienz gegen Blackouts, um die Klimakrise und andere Störfaktoren.“ Externe Entwicklungen könnten den Wandel beschleunigen. Aber wenn sich in der Einstellung der Bevölkerung wirklich etwas ändern soll, „muss die Politik eine Debatte starten und sich positionieren“.
Generalleutnant Bruno Hofbauer, stellvertretender Generalstabschef und Leiter der Direktion Fähigkeiten und Grundsatzplanung im Generalstab, sagt gegenüber profil: „Geistige Landesverteidigung bedeutet zunächst, dass in der Bevölkerung ein Bewusstsein für unsere Werte entsteht und dass diese Werte auch Bedrohungen ausgesetzt sind.“