Europa auf dem Schoß von Uncle Sam. Seit Jahrzehnten ringt die EU um eine gemeinsame Verteidigung. Heute zeigt sich: Ohne Nato würde die europäische Verteidigung sehr schnell kollabieren. Die Abhängigkeit von den USA, deren Industrie, Luftmacht und Geheimdienstwissen ist enorm. Was sich bald als fatal erweisen könnte.
Es ist der 5. November 2024, Wahltag in den USA, die Amerikanerinnen und Amerikaner haben sich für Donald Trump entschieden. Wenige Tage später verkündet der neue US-Präsident, wie er die Ukraine dazu zwingen will, einen Friedenspakt zu schließen.
Völlig ausschließen kann man dieses Szenario derzeit nicht mehr. Viele Staats- und Regierungschefs in Europa fürchten sich schon jetzt vor diesem Tag - und beginnen sich langsam, aber sicher darauf vorzubereiten. Schließlich sollte man wissen, wie man reagiert, wenn Trump nach seinen eigenen Worten "den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden beenden kann".
Wie er das bewerkstelligen will, hat Trump sich noch nicht herauslocken lassen, aber unter Berufung auf Stimmen aus seinem Umfeld schreiben US-Medien, dass die Ukraine die Krim und den Donbass an Russland abgeben müsste. Ist dann Europa ein Partner auf Augenhöhe oder tatsächlich nur ein Schoßhündchen der Vereinigten Staaten, wie gerade in verteidigungspolitischen Fragen gern geunkt wird?
Europa müsse zeigen, dass es kein Vasall der USA sei, sagte jüngst der französische Präsident Emmanuel Macron in einer Grundsatzrede. Faktum ist jedenfalls nach einem ernüchternden und einhelligen Urteil von Militärexperten: Europas Verteidigung läge ohne die USA im Argen.
Militärexperte und Politikwissenschafter Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations in Berlin betont: "Die Nato ist nach wie vor der wichtigste Grundpfeiler der europäischen Verteidigungsstrategie." Er erklärt das vor allem mit der Führung der USA in den Kommandostrukturen, in der Aufklärung, im Luftkrieg und anderem mehr. Dieser Überbau, sagt Gressel, sei ohne die USA schwer bis gar nicht bereitzustellen. Ähnlich argumentiert Ulf Michael Steindl, politisch-militärischer Experte für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und die Zusammenarbeit mit der Nato am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES): "Die europäische Armee ist die Nato. 96 Prozent der EU-Bevölkerung leben in einem Nato-Staat. Nur Österreich, Irland, Malta und Zypern sind noch nicht Teil des Verteidigungsbündnisses."
Die USA sind daher nicht nur für Steindl als "Pfeiler der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" unerlässlich. Europa hat nach dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so wenig in die Streitkräfte investiert, dass zwar noch Know-how da ist, aber jedwede Kapazitäten in der Rüstungsindustrie fehlen, um einen länger dauernden Krieg zu führen. 78 Prozent der europäischen Rüstungsgüter werden derzeit nach Angaben Steindls außerhalb Europas beschafft. Ein klassisches Beispiel, um das zu illustrieren, ist Polen. Das Land hat heute, wie Militärexperte Gressel sagt, mehr Panzer aus Südkorea, als die Ukraine amerikanische Panzer hat, weil die Polen schon alles, was sie aus US-Beständen hatten, an ihren Nachbarn abgegeben haben.
Wie weit die Verteidigung der Europäer gelitten hat, zeigt sich nach Aussagen Gressels auch daran, dass es in Europa kaum eine Fliegerabwehr gebe. Der Drohnenkrieg stecke in den Kinderschuhen, die deutsche Bundeswehr habe zum Beispiel kaum Störsender, um Drohnen stoppen zu können. "Ohne die US-Luftwaffe würde es hier mau ausschauen", sagt Gressel. "Die Europäer benötigen Zeit, um nachzurüsten und sich konzeptionell umzustellen, damit sie nicht in den Selbstmord rennen." Vor diesem Hintergrund bekommen auch Macrons jüngste Appelle für den Aufbau einer europäischen Militärakademie, für verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Cybersicherheit, der Rüstungsindustrie oder die European Sky Shield Initiative zur Sicherung des europäischen Luftraums noch einmal eine ganz andere Dringlichkeit.
Das schlimmste Szenario wäre, wenn die USA unter einem Präsidenten Trump, wie er einmal lautstark in einer Wahlkampfrede hinausposaunte, die europäischen Nato-Partner völlig im Regen stehen ließen. Zwar ist das für die Militärexperten nicht wahrscheinlich, weil die USA 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg versprochen haben, die europäische Sicherheit zu garantieren und auch ein US-Präsident ohne Zweidrittelmehrheit im Kongress die Allianz nicht einfach aufkündigen kann. Aber ein Trump als Präsident könnte sich nach Meinung des Politikwissenschafters und Russland-Experten Gerhard Mangott einfach nicht sehr um die Allianz kümmern. Das wiederum könnte die Abschreckungswirkung der Nato gegenüber Russland schwächen. Umso mehr wird es für Europa, wie Mangott in einem SN-Interview sagte, daher auch wichtig, abseits der Nato verstärkt zusammenzuarbeiten.
Auch Mangott sagt: "Viele der europäischen Armeen sind nicht kampffähig, nicht verteidigungsfähig, nicht abhaltefähig. Die EU hat auch nur eine Nuklearmacht, nämlich Frankreich." Militärexperte Gressel fasst die europäische Verteidigungsschwäche sehr provokant zusammen: "Wenn Trump gewinnt, die Nato alleinlässt und die Ukraine verliert: Der Rest Europas hält gegen diese russische Armee nicht einmal eine Woche durch. Die einzige Chance, die wir haben, um nachzurüsten und dem zu begegnen, ist, dass die Ukraine uns diese Zeit erkauft."
Mangott verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass man auch über eine Ausdehnung des französischen nuklearen Schutzschirms auf die europäischen Nato-Staaten oder auf die EU nachdenke. Es gebe auch Ideen, falls die Nato ihre Glaubwürdigkeit und Kohäsion verlieren sollte, für einen europäischen Sicherheitspakt, in den man die Großmacht Großbritannien einbindet.
Für die Experten besteht keine Alternative zu mehr Wehrkraft der Europäer auch abseits der Nato. Die Amerikaner werden sich in den nächsten Jahren auf die Konfrontation mit China im Indopazifik konzentrieren und Ressourcen dorthin verlagern - egal ob Joe Biden oder Donald Trump an der Spitze der USA steht.
In Europa geht es künftig in erster Linie um "Schutz vor Russland", wie die befragten Experten einhellig unterstreichen. Die Zeiten, in denen man eine Sicherheitsarchitektur mit Russland und mit der Devise "Wandel durch Handel" zu bauen versuchte, sind endgültig vorbei.
Trump als US-Präsident würde es für die Europäer nicht nur nicht leichter machen. Für den verteidigungspolitischen Experten Ulf Michael Steindl würde das auch bedeuten, dass die sogenannten Großen noch mehr als bisher schon über die Kleinen entscheiden. "Trump bewundert Diktatoren, seine Präsidentschaft würde freiere Hand für Russland und China bedeuten."
Große Hoffnung auf eine "Schönwetterzeit" wie nach dem Ende des Kalten Kriegs macht sich Steindl mittelfristig nicht. "Das ist eine Illusion. Die neue Normalität ist, dass Krieg wieder häufiger als Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen geführt wird."
Das hat auch Österreich erkannt. "Das Bundesheer muss kriegsfähig werden", hat der stellvertretende Generalstabs- und Planungschef des Bundesheers, Bruno Hofbauer, als Devise ausgegeben. Eine Devise, die angesichts eines Bundesheeres, das jahrzehntelang kaputtgespart wurde und zeitweise nicht einmal mehr Sprit für seine Fahrzeuge kaufen konnte, reichlich utopisch klingt. Doch um die Utopie wahr werden zu lassen, hat die Regierung einen milliardenschweren Aufbauplan für das Bundesheer beschlossen: Bis 2027 steigt das Wehrbudget um nahezu 50 Prozent auf fast sechs Milliarden Euro. Allein für Rüstungsinvestitionen stehen in den kommenden Jahren mehr als 16 Milliarden Euro zur Verfügung.
Auch sicherheitspolitisch beschreitet Österreich angesichts der "aus den Fugen geratenen Welt", wie es in der aktuellen Sicherheitsanalyse des Bundesheers heißt, neue Wege: Gemeinsam mit den anderen neutralen EU-Staaten Malta, Irland und der Schweiz hat Österreich um eine intensivere Kooperation mit der Nato ersucht. Und ebenfalls gemeinsam mit der Schweiz ist Österreich der europäischen Sky Shield Initiative beigetreten, in deren Rahmen das Bundesheer auch ein weitreichendes Raketenabwehrsystem beschaffen wird, das bis in den Weltraum wirkt.
Fraglich ist, ob die Wehrgesinnung der Österreicher mit den hochfliegenden Plänen zur Nachrüstung Schritt hält. So wie die Rüstung wurde auch die geistige Landesverteidigung jahrzehntelang sträflich vernachlässigt. Die Folge davon ist in einer aktuellen Studie der Universität Innsbruck nachzulesen: Nur 14 Prozent der Österreicher sind bereit, ihr Land zu verteidigen. Hingegen sind 72 Prozent der Ansicht, dass die anderen EU-Staaten uns im Falle eines Angriffs verteidigen sollen.
Wie oben ausgeführt, sind die EU-Staaten in ihrer derzeitigen militärischen Verfassung aber zu einer ernsthaften Verteidigung gar nicht in der Lage. Das heißt, die Österreicher wollen Österreich nicht verteidigen, die EU kann es nicht. Was bleibt? Wie gehabt: die Hoffnung auf die USA.