STANDARD: In Europa findet sicherheitspolitisch gerade der größte Umbruch seit 1989 statt, manche sagen sogar, seit 1945. Wie sehen Sie das?
Schieder: Es ist der größte Umbruch weltweit, durch die Wahl Donald Trumps in den USA einerseits. Andererseits ist der Krieg als Mittel zur Konfliktlösung wieder auf europäischen Boden zurückgekehrt. Einschneidend ist drittens, dass die internationalen Organisationen wie die Uno massiv geschwächt werden.
Lopatka: Ich würde mit Putin und nicht mit Trump beginnen. Wir leben in einer neuen Zeit, und wir müssen uns darauf einstellen. Seit dem Angriff Putins gegen die Ukraine kann man sich auf Rechtssysteme und internationale Verträge nicht mehr verlassen. Wir haben es mit Leuten zu tun, für die zählt nicht die Stärke des Rechts, sondern allein das Recht des Stärkeren. Dazu kommt, dass China groß aufrüstet. Trotz Trump sollen wir nicht den Glauben verlieren, dass Europa mit den USA in der Nato weiterhin zusammenarbeiten kann.
STANDARD: Was bedeutet das für uns?
Schieder: Europa muss sich stärken. Es gibt auf Englisch abgekürzt die drei "Ds", auf die man achten muss: defense, democracy und deepening, also Verteidigung, Stärkung der Demokratie und Vertiefung der Europäischen Union.
In Europa mit am Tisch sitzen
Lopatka: Was wir bei der Verteidigung brauchen, ist mit zwei Worten zu sagen: mehr und gemeinsam. Ziel muss es sein, dorthin zu kommen, wo wir beim gemeinsamen Projekt Airbus sind. Da sind wir heute die Nummer eins, haben Boeing und die USA überholt. Wir müssen enger zusammenarbeiten. Da müssen wir als Österreicher auch dabei sein.
Schieder: Österreich ist ein Teil des gemeinsamen Europa, das gilt für alle Belange, ob Wirtschaftspolitik, Demokratie oder jetzt die verteidigungs- und sicherheitspolitischen Herausforderungen. Wir müssen mit am Tisch sitzen. Das heißt, erstens Analyse, was die Bedrohungen sind. Zweitens die Frage, was ist dagegen zu tun? Und erst im dritten Schritt muss dann geklärt werden, ob die Neutralität dem im Wege steht oder nicht. In den nächsten Jahren steht sie uns nicht im Weg.
Lopatka: Für uns ist das Entscheidende, dass wir uns von einer Schrebergartenmentalität verabschieden. Ich formuliere das bewusst so hart. Es wäre absolut falsch, wenn wir einen Zaun rund um das Land errichten und Neutralität draufschreiben. Das habe ich bei den Regierungsverhandlungen mit der FPÖ so deutlich miterlebt. Die FPÖ lässt völlig außer Acht, dass sich unsere Neutralität durch den EU-Beitritt schon deutlich geändert hat. Wir müssen das gerade jetzt ernst nehmen, dass wir Solidaritätsverpflichtungen in der EU eingegangen sind. Wir haben Beistand zu leisten, wenn ein Mitglied angegriffen wird.
Schieder: Ich würde das ergänzen: Die Neutralität verpflichtet uns, uns selbst wirksam zu verteidigen. Diese beiden Verpflichtungen müssen wir jetzt ernsthaft miteinander verknüpfen. Daran haben wir uns jahrelang vorbeigeschummelt.
STANDARD: Nicht nur die FPÖ, die europapolitisch zurückwill in die Zeit vor 1995.
Schieder: Die FPÖ will die Isolation Österreichs. Wir sind der EU beigetreten, als der Euro noch nicht Realität war, heute ist er jedoch selbstverständlich und gibt uns auch global Stärke und Sicherheit. So muss man es bei anderen Politikfeldern auch sehen.
Vranitzky und Mock als Vorbilder
STANDARD: Franz Vranitzky und Alois Mock haben Mitte der 1980er-Jahre erkannt, dass Österreich im Binnenmarkt dabei sein muss, zum eigenen Vorteil. Ist das heute bei der Sicherheitspolitik wieder so?
Lopatka: Das waren damals mutige, weitblickende Politiker. Auch heute brauchen wir wieder mutige Frauen und Männer, die bereit sind, den nächsten Schritt nach vorne zu setzen. Wir fangen aber nicht beim Punkt null an. Wir sind seit 30 Jahren in der Nato-Partnerschaft für den Frieden. 25.000 Soldaten und Soldatinnen waren bei Einsätzen dabei. Für 23 der 27 EU-Mitgliedsstaaten ist die Nato das Verteidigungskonzept. Da können wir uns nicht vorbeischwindeln.
STANDARD: Muss man die Nato also mitdenken?
Lopatka: Ja, wir sind über die Partnerschaft für den Frieden schon in enger Zusammenarbeit. Das sollte nicht weniger werden, sondern mehr. Die FPÖ wollte bei den Regierungsverhandlungen dezidiert ausschließen, dass wir diesen Kurs fortsetzen. Das wäre absolut verkehrt. Wenn die EU-Staaten jetzt 800 Milliarden Euro einsetzen zum Aufbau der Verteidigungsfähigkeiten, dann sollte da auch unsere Wirtschaft dabei sein.
STANDARD: Von Kanzler Stocker über SPÖ-Chef Babler abwärts wird aber gesagt: keine Neutralitätsdebatte. Wie soll das also gehen?
Schieder: Was wir jetzt zuerst brauchen, ist eine substanzielle sicherheitspolitische Debatte, nicht eine Neutralitätsdebatte. Derzeit geht es immer gleich nur um Neutralität oder Nato-Beitritt.
STANDARD: Sie meinen also, es braucht eine ergebnisoffene Debatte.
Schieder: Genau.
Lopatka: Die Bedrohungen haben sich geändert. Wenn wir uns verteidigen wollen, ob gegen Drohnen, Raketen oder Cyberangriffe, ist eine gemeinsame Antwort am stärksten. Da müssen wir uns die Frage stellen, ob die Neutralität nur mehr eine Fiktion ist oder noch einen Mehrwert hat.
STANDARD: Was spricht für die Neutralität, was dagegen? Was für den Nato-Beitritt und was dagegen?
Neutralität von 1955 ist Geschichte
Schieder: Sie ist eine Realität, sie kommt aus der Geschichte heraus. Was wir jetzt diskutieren müssen, ist nicht dieses Faktum. Wir müssen die Bedrohungen analysieren und dann entscheiden, welche Maßnahmen wir brauchen. Wir müssen das endlich einmal angehen, nicht nur auf 1955 sitzen bleiben und nicht mehr weiter darüber reden.
Lopatka: Faktum ist, wir sind ein neutraler Staat. Das galt bis vor kurzem auch für Schweden und Finnland. Und die waren länger als wir neutral, vor allem die Schweden. In Finnland mit der 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland ist die Bedrohung und deren Wahrnehmung eine andere als bei uns. Deshalb ging die Entscheidungsfindung zum Nato-Beitritt sehr rasch, parteiübergreifend, fast über Nacht. Diese Debatte wurde bei uns bisher nicht geführt.
Schieder: Was bei uns wichtig ist: Die Leute wollen, dass unser Land eine vermittelnde Position einnimmt, dass wir uns stark in internationale Strukturen einbringen, weil wir ein kleines Land sind. Unser Ziel muss sein, Frieden zu schaffen und zu sichern.
Lopatka: In anderen Teilen der Welt ist die Neutralität, die Kooperation mit anderen Staaten ein Vorteil. Außerhalb der EU können wir unsere Brückenfunktion erhalten, da ist die Neutralität durchaus ein Vorteil.
STANDARD: Bedroht der Ukrainekrieg auch Österreich? Das EU-Parlament spricht in der jüngsten Resolution von der "schwersten Bedrohung der territorialen Integrität seit Ende des Kalten Krieges".
Lopatka: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zur Verunsicherung beitragen. Ich glaube, unter der Oberfläche gibt es mehr Verunsicherung bei den Menschen, als wir wahrhaben wollen. Die Gefahr ist real. Denken Sie an die Hackerangriffe, an massive Einflussnahme auf Wahlen durch russische Aktionen.
Schieder: Die Hackerangriffe haben seit Beginn des russischen Angriffskrieges sehr zugenommen. Die kommen von Russland oder aus China und sind staatlich organisiert.
Lopatka: Das reicht bis hinein ins Europäische Parlament. Russland hat viele Stimmen von Abgeordneten, im Plenum wie bei Abstimmungen. Vertreter von AfD oder der FPÖ geben eins zu eins wieder, was Dmitri Peskow, Putins Stimme im Kreml, zum Besten gegeben hat. Fast täglich.
STANDARD: Was sollte also in Österreich jetzt gemacht werden?
Lopatka: Wir müssen die Sicherheitsdebatte führen, nicht nur im Nationalrat, sondern möglichst breit in allen Bundesländern, in den Landtagen bis hinein in die Gemeinderäte, in der Zivilgesellschaft, mit den Bürgern. Wir sind hier in Straßburg drei Regierungsfraktionen und wollen gemeinsam an die Landtage herantreten.
Schieder: Bei dieser Tour geht es vor allem darum zuzuhören, die Vorschläge in die Union einzubringen. Sicherheit ist mit der Handelsfrage verbunden, es hängt mit der Verlässlichkeit der Lieferketten zusammen, für uns eine vitale Frage.
Verteidigung als Wirtschaftsfaktor
STANDARD: Kern der Vorschläge zu einer EU-Militärunion ist die Einrichtung eines EU-Verteidigungsfonds von 150 Milliarden Euro. Für Österreich ein Problem?
Schieder: Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass für die Sicherheit alles möglich ist, aber sonst, bei Klima und Sozialem, gespart wird. Es muss ein Sowohl-als-auch sein. Wir werden auch in die Infrastruktur investieren müssen. Es wird die Kunst sein, dabei eine gute Mischung zu finden.
Lopatka: Infrastrukturen haben immer auch mit Sicherheit zu tun. Sie sind immer auch militärisch nutzbar. Wenn wir etwas für Sicherheit tun, tun wir auch viel für das Zusammenwachsen Europas. Es kommt am Ende der Zivilbevölkerung zugute.
STANDARD: Wird man in zehn Jahren im Rückblick sagen, dass die Bildung einer EU-Verteidigungsunion ähnlich wie das Binnenmarktkonzept vor Jahrzehnten der große weitere Sprung zur Integration war, für Österreich ein Einschnitt wie der EU-Beitritt?
Schieder: Das 21. Jahrhundert hat gerade erst begonnen. Es wird verbunden sein mit einer massiv vertieften Europäischen Union, ein europäisches Jahrhundert.
Lopatka: Eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik wurde bisher ziemlich ausgeklammert. Das wird jetzt die größte Änderung seit langem sein. Österreich muss alles tun, damit wir dabei sind.