800 Milliarden Euro, „ReArm Europe“ und eine forsche Präsidentin: „Wir leben in gefährlichen Zeiten. Europas Sicherheit wird auf sehr reale Weise gefährdet“, sagte Ursula von der Leyen am Montag im Rahmen einer Presseerklärung. ReArm Europe sei ihr „Plan für ein sichereres und resilienteres Europa“, erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission. Am Donnerstag werde sie dieses Konzept den Staats- und Regierungschefs bei deren Sondergipfeltreffen präsentieren.
Fragen der anwesenden Reporter nahm von der Leyen nicht an. Und das wird auch erklärlich, sobald man sich ReArm Europe näher ansieht. Die angeblichen 800 Milliarden Euro, die durch von der Leyens Vorschlag für die Verteidigung der Ukraine und der EU gegen die Aggression Russlands wappnen sollen, entpuppen sich als reines Luftgeld. Nichts davon ist frisches, in kurzer Frist verfügbares Kapital, das in den Kauf von Waffen und den Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie fließen kann.
Vier Jahre mehr Schulden
Vier Teile hat dieser Vorschlag. Drei davon sind bekannt und von den Staats- und Regierungschefs schon vorab abgesegnet. Der erste besteht darin, den Mitgliedstaaten höhere Verteidigungsausgaben zu erlauben, die keine Verfahren wegen übermäßigen Defizits auslösen werden. „Nationale Ausweichklauseln“ in der
einschlägigen Verordnung ermöglichen es der Kommission, einem Mitgliedstaat bei Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“, die sich seiner Kontrolle entziehen und „erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen“ haben, höhere Nettoausgaben zu erlauben. Die Kommission schlägt nun vor, dass vier Jahre lang Verteidigungsausgaben bis zu einer Obergrenze von 1,5 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung aus den Nettoausgaben herausgerechnet werden können.
Und hier wenden von der Leyens Beamte einen Trick an. Basierend auf dieser Obergrenze argumentieren sie, dass somit binnen vier Jahren 650 Milliarden Euro an zusätzlichen, maastrichtkonformen nationalen Verteidigungsausgaben möglich würden. Bloß: Ob die Staaten tatsächlich so stark in ihre Aufrüstung investieren werden, ist offen. Abgesehen davon sind viele EU-Staaten so stark verschuldet, dass diese zusätzlichen Verteidigungsausgaben von den Investoren in ihre Anleihen negativ bewertet (und mit höherer Verzinsung sanktioniert) würden. Ob Brüssel hier Defizitverfahren lanciert oder nicht, ist Pensionsfonds und anderen institutionellen Anlegern ziemlich gleichgültig.
150 Milliarden Euro Kredite
Der zweite Teil von ReArm Europe ist ein Kreditprogramm im Umfang von 150 Milliarden Euro, das durch den Unionshaushalt besichert wird. Dieses Modell ist bekannt, die Kommission wendete es im Frühling 2020 zu Beginn der Covid-Pandemie unter dem Namen „Sure“ an, um die nationalen Kurzarbeitsysteme zu stützen. Das war jedoch nur mäßig erfolgreich, denn die Mitgliedstaaten wollten und brauchten keine verzinsten Kredite, sondern Zuschüsse in ihre nationalen Budgets. Die brachte kurz darauf der Corona-Wiederaufbaufonds „NextGeneration Europe“. So etwas für Rüstungszwecke hat derzeit allerdings keinen politischen Rückhalt in den Hauptstädten.
Der dritte Teil des Plans der Kommissionspräsidentin macht dessen Inhaltsleere besonders deutlich sichtbar. Sie schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten, noch festzulegenden Bedingungen Förderungen aus der Kohäsionspolitik für militärische Zwecke umwidmen können. Nicht für den Ankauf von Kriegsgütern, wohlgemerkt: das verbieten die EU-Verträge ausdrücklich. In ihrem Brief an die EU-Chefs nennt von der Leyen aber „bestehende Beschränkungen für die Unterstützung großer Unternehmen im Rüstungssektor“ als Beispiel.
Das Problem daran: die Kommission hat genau so etwas schon einmal vorgeschlagen – und kein einziger Mitgliedstaat hat es in Anspruch genommen. Für das Programm zur beschleunigten Herstellung von Artilleriemunition namens „Asap“ wären auch Kohäsionsmittel zur Umwidmung bereitgestanden: Sie blieben aber ungenutzt.
Der vierte und letzte Aspekt von ReArm Europe ist bereits bekannt und politisch akkordiert: Die Europäische Investitionsbank soll auch privatwirtschaftliche Rüstungsinvestitionen mitfinanzieren dürfen.