Von 16. bis 18. Februar wird die Sicherheitskonferenz in München wieder einmal Zentrum für Diskussionen über Krieg und Frieden. Wolfgang Ischinger war nicht nur Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt sowie Botschafter in den USA und London. Er hat viele Jahre versucht, mit der Sicherheitskonferenz Brücken für friedliche Lösungen zu schlagen. Als Präsident des Stiftungsrats der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz mischt er heute noch kräftig mit.
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine droht man in Moskau mit dem Dritten Weltkrieg, Atomschlägen und so weiter. Wie real ist die Gefahr?
Wolfgang Ischinger: Der Westen hat keinen Grund, in Schockstarre oder Panik zu verfallen. Wir dürfen uns immer wieder daran erinnern, dass die kollektive Wirtschaftskraft des Westens ungefähr das 25-Fache dessen ausmacht, was die Russische Föderation an Wirtschaftsleistung auf die Matte bringt.
Würde es der Westen nur ernst meinen, hätte die Russische Föderation nicht den Hauch einer Chance, ein Nachbarland wie die Ukraine zu unterjochen, wenn es vom kollektiven Westen so massiv unterstützt wird, wie das notwendig erscheint.
Ist man zu Recht besorgt über eine erhöhte Kriegsgefahr in Europa?
Zu Beginn des Jahres 2024 erleben wir ein Zusammenwirken von so vielen schwerwiegenden und zum Teil außerordentlich gefährlichen Krisen wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Aber noch einmal: Wenn der Westen darauf mit den Möglichkeiten reagiert, die er hat, brauchen wir nicht zu fürchten, dass Russland uns angreift. Aber wir müssen uns den Dingen stellen.
Die Dimension der Zeitenwende, die der deutsche Bundeskanzler Scholz vor zwei Jahren ausgerufen hat, ist von der Öffentlichkeit nicht voll erfasst oder verstanden worden. Wir erleben einen Epochenbruch. Vielleicht auf Jahrzehnte hinaus werden wir mit einer gefährlichen Bedrohungslage aus Richtung Russland zu rechnen haben. In absehbarer Zeit werden wir nicht zur gewohnten Normalität der vergangenen Jahrzehnte zurückkehren können. Die Zeitenwende muss ernst genommen werden. Zeitenwende bedeutet, dass andere Regeln und Prioritäten gelten, nicht nur für die Verteidigungspolitik, sondern auch für die Art und Weise, in der wir mit Freunden und Gegnern umgehen.
Ist 2024 ein Schlüsseljahr für die Welt?
In der Tat stehen wir zu Beginn des Jahres 2024 an einem Schlüsselmoment. Es gehört nicht viel prophetische Gabe dazu, um zu sagen: Was in diesem Jahr passiert oder nicht passiert, wird langfristige, ja historische Auswirkungen auf die europäische Sicherheitslage, auf das Selbstbewusstsein und die Selbstbehauptungskräfte der EU und auf den Umgang mit dem Aggressor Russland haben.
Im November finden die US-Präsidentenwahlen statt. Rechnen Sie mit einer Wiederwahl Donald Trumps?
Damit rechne ich keineswegs. Diese Frage ist bis zum Wahltag offen. Bei amerikanischen Wahlen haben wir schon Überraschungen erlebt - und man wird auch in diesem Jahr davor nicht gefeit sein.
Gute sicherheitspolitische Vorsorge erfordert es aber zwingend, dass wir uns nicht in dieselbe Lage bringen lassen, in der sich der Westen kollektiv befand, als Trump vor inzwischen fast acht Jahren gewählt wurde. Wir hatten so gut wie keine Kontakte zu ihm persönlich oder seinem Beraterstab. Europäische Außenpolitiker mussten quasi bei null anfangen, um solche Kontakte zu etablieren. Das ist schlechte Vorbereitungspolitik. Es spricht nichts dagegen, dass man mit jedem republikanischen Senator und Abgeordneten, dessen man habhaft wird, das intensive Gespräch und mit den möglichen Beratern eines Präsidenten Trump den möglichst engen Schulterschluss sucht. Trump hin oder her - es gibt unglaublich viele transatlantische Gemeinsamkeiten, die auch von einer Trump-Administration nicht ignoriert werden können. Auf diese Gemeinsamkeiten gilt es aufzubauen, um eine transatlantische Bauchlandung im Falle eines Trump-Siegs zu vermeiden.
Könnte ein Zerfall der Nato eine Folge eines Wahlsiegs von Trump sein?
Ich mag mir nicht die Vorstellung zu eigen machen, dass es zu einem Zerfall oder Zerbrechen der Nato kommt. Es reicht aber schon, wenn der US-Präsident zwei abfällige Bemerkungen über die Haltung zur Nato macht. Bei solchen Bemerkungen würden in Moskau die Champagnerkorken knallen, weil es eine öffentliche und nachhaltige Schwächung, ja Demütigung des westlichen Zusammenhalts und eine Stärkung der russischen Seite wäre.
Solche Äußerungen eines Donald Trump hat man ja schon erlebt, und man kann sie nicht ausschließen. Umso wichtiger wird es sein, dass er sich hoffentlich mit einem Beraterstab umgibt, der weiß, was auf dem Spiel steht. Anders als 2016/2017 geht es um einen wahrhaftigen Krieg mit der Nuklearmacht Russland mitten in Europa. Nach dem Afghanistan-Desaster vor drei Jahren geht es nun auch um die globale politische Glaubwürdigkeit Amerikas.
Zieht Putin den Krieg in der Ukraine in die Länge, weil er auf Trump wartet?
Er hat ja behauptet, er könne den Krieg in einem Tag beenden. Wir haben Grund zur Annahme, dass Putin eine wie auch immer geartete Verhandlungslösung oder eine Kompromissvereinbarung in Sachen Ukraine sicherlich nicht eingehen wird, bevor er nicht den Ausgang des US-Wahlkampfs kennt. Er geht zu Recht davon aus, dass vom Chef im Weißen Haus sehr viel abhängt, was die Behandlung solcher Krisen angeht.
Es gibt aber auch noch andere Gründe. Die Fortsetzung dieses Kriegs selbst bei enormen Opfern und Kosten auf der russischen Seite hat für Putin eher positive politische Folgen. Im Zuge eines Kompromisses müsste er zugeben, dass Russland seine ursprünglichen Kriegsziele - die Unterwerfung der Ukraine und die Entfernung der Regierung Selenskyj - nicht erreicht hat und dies auch nicht in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Die Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung ist ein Vehikel zur Verschleierung der eigentlich eingetretenen russischen Niederlage.
Der Krieg wird also noch lange andauern?
Es ist zu befürchten, dass der Krieg eher länger als kürzer dauern wird. Darauf muss sich der Westen einrichten. In Moskau glaubt man sicherlich, den längeren Atem zu haben. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir alles tun, damit man in Moskau versteht, dass der Westen bei seinen Unterstützungsleistungen für die Ukraine nicht nachlassen wird und es keine Chance gibt, dass Russland seine ursprünglichen Kriegsziele verwirklichen kann. Erst wenn diese Erkenntnis endgültig im Kopf von Putin angekommen ist, haben ernst gemeinte Verhandlungen eine Chance. Und eine Verhandlungslösung darf natürlich nicht aussehen wie Minsk 1 oder 2 - die Ukraine braucht knallharte Sicherheitsgarantien, am besten die Nato-Mitgliedschaft.
Die Münchner Sicherheitskonferenz (16. bis 18. Februar) hat sich immer zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen gegnerischen und verfeindeten Lagern zu schlagen. Nun sind die Russen auch dieses Mal wieder nicht in München. Verfehlt damit die Konferenz nicht einen Teil ihres Auftrags?
Es ist zu bedauern, dass sich die russische Seite schon vor dem Beginn des Großangriffs auf die Ukraine nicht mehr getraut hat, nach München zu kommen.
2022 habe ich noch persönlich sämtliche russischen Entscheidungsträger mit persönlichen Schreiben eingeladen. Kurzfristig wurde von russischer Seite mitgeteilt, man komme nicht. Natürlich ist unter den gegenwärtigen Umständen schon gar nicht damit zu rechnen, dass sich Vertreter der russischen Seite der Kritik im Ballsaal des Bayerischen Hofs aussetzen wollen.
Ein anderer bedeutender Konfliktherd ist die Lage um Taiwan: Wann wird die Zeitbombe detonieren?
Hier ist eine strategische Gesamtschau wichtig. In den USA sind einige der Meinung, man müsse jetzt alle Ressourcen auf China, das Südchinesische Meer und Taiwan konzentrieren und die Ukraine stärker den Europäern überlassen. Ich habe die exakt umgekehrte Meinung. Ich vertrete die These, dass die beste Methode, China von einem militärischen Abenteuer gegen Taiwan abzuschrecken, das Zeigen klarer Kante gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt ist.
Sollte sich der Eindruck breitmachen, dass Amerika nach dem Desaster des Afghanistan-Abzugs die Ukraine Russland sozusagen zum Fraß vorwirft, würde das in China diejenigen beflügeln, die meinen, man könne sich mit Taiwan beschäftigen und die Amerikaner würden die Chinesen schon machen lassen.
Klare Kante, Härte und Durchsetzung der westlichen Interessen in der Sache der Ukraine sind hervorragende Instrumente, um auch im Südchinesischen Meer zu Stabilität und weiterem Frieden beizutragen.