Tanner: "Die Neutralität als solche ist kein Schutzschild"
STANDARD: Was ist Stand heute Ihre Einschätzung, wie es in der Ukraine weitergeht?
Tanner: Es ist ohne Zweifel ein Krieg, der länger andauern wird. Das ist bei der Lageeinschätzung des ukrainischen Verteidigungsministers beim EU-Treffen klar zum Ausdruck gekommen.
STANDARD: Wie dramatisch ist es?
Tanner: Sehr dramatisch. Eine Zahl illustriert das anschaulich. In rund zwei Wochen wird so viel Munition seitens der Ukraine verbraucht, wie in Europa in einem Jahr produziert wird. Wenn man das in Relation setzt, wie viele Menschen das das Leben kostet, ist das auf beiden Seiten eine furchtbare Situation.
STANDARD: Wenn man genau hinhörte, scheint bei manchen EU-Verteidigungsministern eine gewisse Unsicherheit zu bestehen, ob das Ziel erreicht werden kann, die Ukraine vor einer Niederlage zu bewahren. Täuscht dieser Eindruck?
Tanner: Das würde ich so nicht formulieren. Jede und jeder hat zum Ausdruck gebracht, dass wir die Ukraine jetzt erst recht und so lange wie nötig unterstützen müssen.
STANDARD: Aber wie wird man diese Defizite bei den Munitionslieferungen, die festgestellt wurden, in den kommenden Monaten realistischerweise kompensieren und aufholen bei der Produktion und Lieferung von Waffen und Munition?
Tanner: Das Bewusstsein ist geschärft worden, dass man die Beschaffung gemeinsam machen muss und dass innerhalb von Europa die Kapazitäten wieder aufgebaut werden müssen, gemeinsam mit der Rüstungsindustrie. Und das sehr rasch.
STANDARD: Das geht über einzelstaatliche Beschaffung weit hinaus?
Tanner: Gemeinsame Beschaffung heißt immer, dass es schneller gehen kann und dass man dadurch besser Engpässe beseitigen kann. Das wurde von beinahe allen Ministerkollegen bestätigt. Dadurch soll es im Gesamten kostengünstiger werden.
STANDARD: Steht den Europäern eine Phase starker Aufrüstung bevor?
Tanner: Ja, das hat schon begonnen. Und dieser Weg muss weiter beschritten werden, das steht außer Zweifel.
STANDARD: Es lässt sich am EU-Budget ablesen, wo das unter "Friedensfazilität" abläuft. Die war 2018 mit 5,6 Milliarden Euro angesetzt, wurde vergangenes Jahr um 2 Milliarden aufgestockt, bis 2027 sollen weitere 3,5 Milliarden folgen. Dazu kommen die nationalen Aufwendungen.
Tanner: Das stimmt. Es hat sich vor einem Jahr alles geändert. Man hat es bis dahin nicht für möglich gehalten, dass der Krieg in dieser Form wiederkehren könnte. Ab dann war klar, dass die Hausaufgaben zu erfüllen sind, auch innerstaatlich.
STANDARD: Was bedeutet das für die Politik der EU insgesamt? Wohin geht die Reise?
Tanner: Die Notwendigkeit, budgetäre Mittel bereitzustellen, die hat man schon früher gesehen. Über Jahre und Jahrzehnte hatte man sich auf soziale Sicherheit konzentriert, war der Meinung, es wird schon nichts passieren. Das war auch bei uns in Österreich so, und in allen anderen Staaten. Um es positiv zu formulieren: Wir haben von Anfang an gesehen, dass die Union, die Mitgliedsländer Seite an Seite stehen und mit einer Stimme nach außen sprechen müssen. Jetzt geht es auch darum – bei aller Notwendigkeit, in die Ukraine zu schauen –, die anderen Krisenherde in Europa und darüber hinaus nicht zu übersehen.
STANDARD: Gibt es keine Abweichungen, keine Länder, die abbröckeln?
Tanner: Nein. Es stimmt, dass es politisch nach wie vor eine Einigkeit gibt. Man spricht mit einer Stimme, benennt, was passiert ist, dass es ein Angriffskrieg ist, der seinesgleichen sucht. Das steht fest.
STANDARD: Es wurden viele Tabus gebrochen. Schweden und Finnland treten der Nato bei, die EU finanziert Waffenlieferungen, und viele rufen Deutschland auf, eine militärische Führungsrolle zu übernehmen. Bisher undenkbar, oder?
Tanner: Wenn so etwas passiert wie dieser Angriffskrieg, muss man alles neu denken. Wir müssen in jeder Hinsicht resilienter, widerstandsfähiger werden. Wir haben gerade über gemeinsame Beschaffung gesprochen, das hat es ja lange nicht mehr gegeben. Es wurde militärisch alles zurückgefahren, sodass die Kapazitäten der Rüstungsindustrie heute gar nicht mehr da sind.
STANDARD: Was bedeutet es für Österreich?
Tanner: Wir haben schon vor dem Krieg erkannt, dass das starke Zurückfahren des Verteidigungsbudgets nicht der richtige Weg war. Das war schon erkennbar, als in der Pandemie die Notwendigkeit des Eingreifens des Bundesheeres gegeben war, mit 8.000 Soldaten. Damals haben wir eine Budgeterhöhung erkämpft. Es gab neue Risikobilder, die zu Erhöhungen geführt haben. Der ganz große Schritt kam aber nach dem 24. Februar 2022.
STANDARD: Österreich war bisher relativ stark engagiert bei Auslandseinsätzen, allen voran in Bosnien-Herzegowina. Bleibt das, und wo sind die weiteren Notwendigkeiten von Budgetaufstockungen?
Tanner: Wir hatten mit dem Ukrainekrieg das Risikobild der Bedrohungen zu adaptieren und das Streitkräfteprofil neu einzuordnen. Wir müssen zu Hause und im Ausland stark sein. Wir haben derzeit im Ausland 1.200 Soldatinnen und Soldaten in 15 Missionen im Einsatz. Dieser Fokus soll bleiben. Und gleichzeitig müssen wir im Inland stärker werden. Mit dem Landesverteidigungsfinanzierungsgesetz wurde dafür die Grundlage geschaffen, damit wir 2032 so weit sind, unsere Aufgaben zu erfüllen.
STANDARD: Was sind diese Aufgaben im Inneren, worin muss investiert werden?
Tanner: In alles. Der erste Bereich ist der, in dem es um den Schutz und die Wirkung unserer Soldatinnen und Soldaten geht, das ist der größte Anteil mit sieben Milliarden Euro. Der zweite Bereich betrifft die geschützte Mobilität, die Panzerflotte, mit Fluggerät, insgesamt etwa sechs Milliarden. Und drittens die Infrastrukturen, also Kasernen zum Beispiel.
STANDARD: Wie sieht es mit den Personalkosten aus?
Tanner: Das ist nicht nur ein Kostenfaktor, ein budgetäres Problem, wir müssen uns vor allem um Personal bemühen, sonst haben die Anschaffungen keinen Sinn. Mit der allgemeinen Wehrpflicht und dem Zugriff auf Grundwehrdiener haben wir einen gewissen Vorteil im Vergleich zu anderen Ländern. Mit dem neu geschaffenen freiwilligen Grundwehrdienst für Frauen kommt eine weitere Komponente dazu. Aber wir müssen dem Problem ins Auge schauen, dass geburtenschwache Jahrgänge kommen und es viele Pensionierungen geben wird. Das heißt, wir müssen bei Frauen wie bei Männern die Personalwerbemaßnahmen massiv verstärken, damit wir unsere Aufgaben erfüllen können.
STANDARD: Sie haben das Heeresbudget von knapp unter drei Milliarden Euro auf mehr als vier Milliarden erhöht. Das ist mit rund ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes noch immer deutlich unter dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato- und EU-Staaten. Was ist das angepeilte Ziel?
Tanner: Für die nächsten vier Jahre sind 16 Milliarden Euro vorgesehen, inklusive Personalkosten. Bis 2032 ist ein stetiges Anwachsen geplant.
STANDARD: Nach den Bemühungen um einen Nato-Beitritt von Schweden und Finnland gibt es auch Initiativen in Österreich für den Beitritt zum Bündnis. Wenn wir ohnehin so viel investieren müssen, um Land und Neutralität zu schützen, warum treten wir nicht gleich in die Nato ein, und haben damit auch einen kollektiven Schutzschirm? Warum wollen die Parteien darüber nicht ernsthaft diskutieren?
Tanner: Das würde uns nicht davon befreien, unsere Hausaufgaben zu machen. Das tun wir. Was ich nicht gelten lasse, ist, wenn von der einen oder anderen Seite das Wort "Trittbrettfahrer" verwendet wird. Das ärgert mich tatsächlich, weil es ungerecht ist gegenüber den Soldaten, die zum Beispiel in den Auslandseinsätzen sind. Nehmen sie Schweden oder Deutschland zum Vergleich, wir haben an gemeinschaftlichen Einsätzen einen großen solidarischen Anteil. Da müssen wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
STANDARD: Aber warum kein offener Dialog dazu, es geht in Richtung gemeinsamer europäischer Verteidigung, als Teil und Säule der Nato. Warum nicht die Perspektive auch für Österreich öffnen? Noch dazu, weil wir als EU-Mitglied ohnehin eine militärische Solidaritätsverpflichtung zum Beistand eingegangen sind.
Tanner: Wir diskutieren das ja. Wir müssen uns intensiv mit diesen Fragen beschäftigen, tun das im Ministerium auch seit dem 24. Februar, unser Bereich ist fertig.
STANDARD: Mit welchem Ergebnis?
Tanner: Die Grundlage für alles ist das, was im Bundesheer seit langem vernachlässigt worden ist, die Ausrüstung. Wir werden das bis 2032 nachhaltig umsetzen.
STANDARD: Das Aufgeben der Neutralität ist für Sie kein Thema?
Tanner: Ich habe schon oft gesagt: Gegen das Volk zu regieren ist generell falsch. Aber selbstverständlich haben wir nach dem 24. Februar besprochen, dass wir im Ukrainekonflikt nicht neutral sind, dass wir das Land auf verschiedene Art unterstützen. Das Einzige, was wir nicht tun: Wir liefern keine Angriffswaffen, und wir bilden auch nicht aus, um das Beispiel der Panzer zu nennen. Wir müssen betonen, dass wir vielfältig helfen, humanitär, den Flüchtlingen, oder wenn es um Sanktionen geht.
STANDARD: Okay, aber es gibt eben auch den sensiblen Bereich der militärischen Hilfe. Österreich ist nach dem EU-Vertrag verpflichtet, anderen Mitgliedsstaaten beizustehen, wenn sie angegriffen werden. Was würden wir dann tun, was würden Sie als Ministerin tun?
Tanner: Dazu gibt es genaue Dokumente. Wenn dieser Fall eintritt, wird eine genaue Lagebeurteilung durchgeführt. Dann muss eine entsprechende Entscheidung fallen. Aber gerade jetzt sollte man diesbezüglich nicht Ängste schüren. Jetzt geht es um etwas anderes. Die Neutralität als solche ist kein Schutzschild. Sie bedingt aber, dass wir ein entsprechendes Budget, die Mittel haben, um unseren Aufgaben nachkommen zu können.
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