Die militärischen Kampffähigkeiten des modernen Deutschland

Wehrtechnik & Rüstung, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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uvikamelis9
Beiträge: 1
Registriert: Do 27. Aug 2020, 13:41

Die militärischen Kampffähigkeiten des modernen Deutschland

Beitrag von uvikamelis9 »

Wenn es möglich ist, Deutschlands Fragen der Militärfinanzierung beiseite zu legen, wie kampffähig ist das deutsche Militär insgesamt?

Ich frage, weil ich verstanden habe, dass einige Deutsche streng auf Angehörige ihres eigenen Militärs herabblicken und sie mit scheinbar unangemessenen Vorurteilen behandeln. Was ist die Wahrheit?
muck
Beiträge: 1269
Registriert: Do 9. Jul 2020, 05:10

Re: Die militärischen Kampffähigkeiten des modernen Deutschland

Beitrag von muck »

Du bist im falschen Subforum unterwegs, kann das sein? Ich nehme an, ein Moderator wird diesen Strang in den internationalen Teil verschieben.

Allgemein lässt sich sagen, dass die Deutsche Bundeswehr einen höheren Kampfwert und Klarstand aufweist als von der Presse kolportiert. Ausgenommen einige wenige neu eingeführte Systeme – und positive Ausreißer wie LUH SpezO oder TPz Boxer) – beträgt der Klarstand 60 bis 70%, was keine Jubelarien auslöst, sich jedoch im internationalen Vergleich bewegt.

Im Ernstfall wäre der begrenzte Munitionsvorrat wahrscheinlich das größere Problem. Je nach Waffensystem (und je nach Quelle) ist mit den jetzigen Vorräten nach 3 bis 14 Tagen Gefechtsführung Schluss.

Dass komplexe Gerätschaften wie neue moderne Waffensysteme beinahe zwangsläufig Kinderkrankheiten aufweisen, die erst einmal ausgemerzt werden müssen, ignoriert die Öffentlichkeit natürlich. Desgleichen, dass sich manches Problem in Wohlgefallen auflösen könnte, würde man zu einer umfassenden Ersatzteilbevorratung zurückkehren.

Für die Diskrepanz zwischen angeblicher und tatsächlicher Einsatzbereitschaft zeichnen freilich vor allem persönliches Engagement und kreative Materialbewirtschaftung verantwortlich. Die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit kompensieren viele deutsche Soldaten durch eine "Jetzt erst recht!"-Haltung; ich denke, in Österreich ist dies ähnlich.

Was natürlich stimmt, ist, dass der Kampfwert der Bundeswehr (wie jener der meisten westlichen Streitkräfte) seit 1990 beträchtlich gesunken ist.

Laut einer RAND-Studie von 2016 wären die Deutschen fähig, binnen 30 Tagen eine mechanisierte Brigade ins Baltikum zu verlegen. Dies bewegte sich unter dem Niveau der Franzosen (ein Bataillon in sieben Tagen), aber auch deutlich über dem der Briten (eine Bataillonskampfgruppe in dreißig Tagen).

Meiner Meinung nach sieht die Situation 2020 anders aus; die vielen Verlegeübungen, die beständige Präsenz in Litauen und die leicht verbesserte Situation in der Ersatzteilbewirtschaftung haben zu einer allgemeinen Anhebung der Einsatzbereitschaft geführt.

2023 will man den Nachweis erbringen, eine Brigade in sieben Tagen verlegen zu können und ich wage zu behaupten, dass dieses Ziel erreicht wird – wenn auch vielleicht "nur" mit dem SPz Marder anstelle des neueren Puma, über dessen Zukunft sich wieder dunkle Wolken ballen. Ab 2027 soll dann eine Division innerhalb von 30 Tagen verlegefähig sein.

Und von 2032 an will man drei Heeresdivisionen, vier Air Task Forces (im Prinzip ein zur selbstständigen Operationsführung und Durchhaltefähigkeit über 30 Tage verstärktes Geschwader) und insgesamt 32 Über- und Unterwasserkampfschiffe zur Verfügung haben, die gemäß des angestrebten Klarstandes auch alle kampfbereit gehalten werden sollen.

Stand jetzt ist das Vorhaben auf einem überraschend guten Weg. Die größten Stolpersteine scheinen im technischen Bereich zu liegen (wie eben in puncto Puma); und der Streit mit den USA wirkt sich negativ auf die Ambitionen der Luftwaffe aus. Im politischen Bereich sieht es hingegen ausnahmsweise recht gut auas.

Die Regierung in Berlin scheint nicht an eine längere Rezession zu glauben und macht keine Anstalten, den Wehretat zu senken; überdies lassen sich militärische Beschaffungsvorhaben auch in Krisenzeiten hierzulande als Maßnahmen zum Arbeitsplatzerhalt rechtfertigen.

Sodann herrscht bis an den rechten Rand des linken Lagers hinein Konsens, dass Deutschland außenpolitisches Gewicht zulegen müsse, um in der Post-Brexit-EU nicht hinter Frankreich nur die zweite Geige zu spielen.

Nicht zuletzt darf mit politischer Kontinuität gerechnet werden; aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben Kanzlerschaft und Verteidigungsministerium bis mindestens 2025 in Händen der Konservativen, die (anders als ihre österreichischen Parteifreunde) die Armee nicht bloß als Sparschwein ansehen.

Indessen; obwohl es in der Diskussion häufig um den Wehretat geht, würde ich – als, wie ich behaupten darf, informierter Beobachter – widersprechen: Es fehlt nicht am Geld. Deutschland hat die siebthöchsten Verteidigungsausgaben der Welt, aber keineswegs die siebtschlagkräftigsten Streitkräfte.

Deutschland gibt vielmehr das Geld an den falschen Ecken und Enden aus. Gerade im Beschaffungswesen grassiert eine ungeheure Bürokratie und eine gefährliche Neigung, immer die "eierlegende Wollmilchsau" einkaufen zu wollen. Beinahe jedes Beschaffungsvorhaben der letzten dreißig Jahre ist wegen unrealistischer Anforderungen teuer ausgeufert.

Zweitens liegt der Personalkostenanteil zu hoch, was einerseits auf einen stetig wachsenden Berg an Pensionen und Zuzahlungen zurückzuführen ist, andererseits auf eine Personalstruktur, die im Großen und Ganzen immer noch einer Wehrpflichtarmee entspricht.

Es besteht ein Wasserbauch an (teuren) Unteroffizieren, und Karrieremöglichkeiten für die Chargen, wie man das in Österreich nennt, tun sich nur langsam auf.

Es handelt sich also um strukturelles Probleme, die auch bei einer massiven Anhebung des Etats zumindest grundsätzlich fortbestünden.

Was schließlich die Frage nach der Haltung der Bevölkerung anlangt; einerseits geistern viele Vorurteile umher, dass in der Bundeswehr nichts funktioniere, und gerade in "liberalen" Städten wie Hamburg oder Berlin werden Soldaten in Uniform auch schon einmal angespuckt.

Andererseits schneiden die Streitkräfte in Beliebtheitsrankings stets gut ab – sowohl als staatliche Institution im Allgemeinen wie auch als Arbeitgeber im Besonderen.

Meine persönliche Meinung ist, dass der Durchschnittsdeutsche dem Militär einfach desinteressiert gegenübersteht. Es hängt daher stark von der Person des Verteidigungsministers und, natürlich, des Kanzlers ab, wie sich die Streitkräfte entwickeln und wie sie eingesetzt werden.
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